Die Hornisse
nicht von den zahlreichen Facetten seines Grolls. Es hätte ihr kaum geschmeichelt, und lustig gefunden hätte sie es sicher auch nicht. Allerdings hätte sie sich genausowenig dafür verantwortlich gefühlt, denn Dominanz und Herrschsucht hatten für Chief Hammer keine erregende Wirkung. Nicht einmal flüchtig wäre ihr der Gedanke gekommen, das, was sie darstellte, könnte bei anderen ein Gefühl der Begierde oder den Wunsch nach Unterwerfung auslösen. Nie hätte sie sich vorstellen können, daß Seth zu so ungesunder Zeit Eis mit Butterscotch, heißer Karamelsoße und Maraschinokirschen aß, nur weil er sich eigentlich wünschte, von ihr an den Bettpfosten gekettet oder in zweideutiger Weise gründlich durchsucht zu werden. Er wünschte, sie würde ihn animalischer sexueller Wünsche beschuldigen, festnehmen und den Schlüssel fortwerfen. Er wollte, daß sie nach ihm schmachtete, an sich selbst zweifelte und alles, was sie getan hatte, in Frage stellte. Was er nie gewollt hatte, war seine eigene Verurteilung zum Kerker in Einzelhaft - und dazu war ihre Ehe geworden. Chief Hammer trug keine Uniform und telefonierte nicht einmal per Handy. Sie hatte einen langen Bademantel aus dickem Frottee an. Sie litt unter Schlaflosigkeit, und das nicht zum erstenmal. Sie schlief selten viel. Ihr Kopf hatte seinen eigenen Rhythmus, der Körper war dagegen Nebensache. Sie saß im Wohnzimmer. Die »Tonight Show« flimmerte bei leise gestelltem Ton. Dazu las sie das Wall Street Journal, ein paar dienstliche Memos, einen der vielen langen Briefe ihrer alten Mutter und ein paar besonders tiefschürfende Zeilen aus Marianne Williamsons A Return to Love. Hammer versuchte, Seths Geräusche in der Küche zu überhören. Sein Versagerleben unterschied sich kaum von ihrem. Was immer sie sich selbst oder den Therapeuten in Atlanta oder Chicago auch sagen mochte, ein tiefes Gefühl von Versagen wich keinen Tag und keine Stunde von ihr. Sie mußte etwas furchtbar Schlimmes getan haben, sonst würde Seth da nicht mit Messer, Gabel und Löffel Selbstmord begehen, von der Schokoladensoße ganz zu schweigen. Im Rückblick erkannte sie: Die Frau, die ihn damals geheiratet hatte, mußte ein anderes Wesen gewesen sein. Sie, Chief Hammer, war in gewisser Weise nur eine Reinkarnation dieser vergangenen und verlorengegangenen Erscheinung. Sie brauchte keinen Mann. Sie brauchte Seth nicht. Jeder wußte das, auch Seth. Es war eine einfache Tatsache, daß Frauen, die zur Elite der Cops, Marines und der Airforce, der Nationalgarde, Feuerwehr oder des Militärs im allgemeinen gehörten, privat keinen Mann brauchten. Hammer hatte schon viele solcher unabhängigen Frauen unter ihrer Führung gehabt. Ihnen würde sie stets den Vorzug geben, solange sie sich den Männern, die sie nicht brauchten, soweit angeglichen hatten, daß sie auch ihre schlechten Angewohnheiten übernommen hatten: etwa, sich um jeden Preis zu prügeln, als eine friedliche Lösung zu suchen oder aufdringlich, dominant und überheblich sein zu müssen. Was ihre eigene Situation betraf, war Hammer in all den Jahren zu der Erkenntnis gelangt, daß sie mit Seth eine übergewichtige, neurotische, arbeitsscheue, ständig nörgelnde Ehefrau hatte. Judy Hammer war reif für eine Veränderung. Das ließ sie in diesen ersten Stunden des neuen Tages einen taktischen Fehler begehen. Sie beschloß nämlich, sich in ihrem langen Bademantel in die Hollywoodschaukel auf ihrer Veranda zu setzen, ein Glas Chardonnay in der Hand, und einen entrückten Augenblick lang allein ihren Gedanken nachzuhängen.
Brazil war wie hypnotisiert, als er sie plötzlich heraustreten sah. Eine Vision, eine Göttin in schimmerndem Weiß. Sein Herz raste, als wolle es zerspringen. Regungslos saß er auf der kalten Steinbank. Er hatte Angst, sie könnte ihn entdecken. Nicht die kleinste ihrer Bewegungen entging ihm, wie sie sich auf der Schaukel abstieß und hin- und herschwingen ließ, wie ihr Handgelenk sich bog, als sie das spitz zulaufende Glas an die Lippen hob, wie sie sich zurücklehnte. Er bewunderte die Linie ihres Halses, während sie mit geschlossenen Augen sanft hin-und herschaukelte.
Worüber sie wohl nachdachte? Ob sie wie er diese dunklen Schatten kannte, diese kalten Winkel in ihrem Dasein, von denen niemand wußte? Still und einsam schaukelte sie vor sich hin. Seine Brust schmerzte. Er fühlte sich zu dieser Frau hingezogen und wußte nicht genau, warum. Es mußte so was wie Heldenverehrung sein. Er wußte
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