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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nicht, was er tun würde, wäre er nah genug, sie zu berühren. Aber der Wunsch war da, während er ihren Anblick genoß. Sie war hübsch, trotz ihres Alters. Sie war nicht grazil, sondern auf faszinierende Weise kraftvoll und unwiderstehlich. Wie ein älterer, gut erhaltener BMW, an dem es noch Chrom gab und nicht nur Plastik. Sie hatte Charakter und Persönlichkeit. Sicher war ihr Mann ihr gewachsen, ein Gewinner, Anwalt oder Chirurg vielleicht, jedenfalls einer, der bei aller Geschäftigkeit seiner Frau immer ein guter Gesprächspartner war.
    Chief Hammer stieß sich ab und nippte wieder an ihrem Wein. Trotz ihrer Position würde sie nie ganz das Gefühl für den einfachen Mann auf der Straße verlieren. Sie spürte verdammt genau, wenn sie beobachtet wurde. Unvermittelt stand sie auf, reckte sich und sah suchend in die Nacht. Da war der vage Umriß einer Person, die in dieser störenden kleinen Parkanlage direkt neben ihrem Haus saß. Wie oft hatte sie sich schon auf Eigentümerversammlungen der Nachbarschaft darüber beschwert, daß eine öffentliche Grünanlage an ihr Grundstück grenzte? Aber natürlich hatte niemand auf sie gehört. Zu Brazils Entsetzen kam sie die Verandastufen herunter, blieb dann zwischen ein paar Sträuchern stehen und sah ihn direkt an.
    »Wer ist da?« fragte sie mit fester Stimme.
    Brazil brachte kein Wort heraus. Keine Feuersbrunst und kein Notruf hätten seine gelähmte Zunge lösen können. »Wer sitzt denn da?« fragte sie wieder. Sie war müde und gereizt. »Es ist fast zwei Uhr morgens. Normale Menschen sind um diese Zeit zu Hause. Sie sind also entweder nicht normal, oder Sie wollen mein Haus ausspionieren.«
    Brazil überlegte, was passieren würde, wenn er jetzt Fersengeld geben würde. Als kleiner Junge hatte er immer geglaubt, wenn er mit vollem Tempo rannte, würde er verschwinden, unsichtbar werden oder sich wie Little Black Sambo in Butter verwandeln. Wie versteinert saß Brazil auf seiner Bank, während Chief Judy Hammer einen Schritt näher kam. Etwas in ihm wollte, daß sie erfuhr, daß er es war, damit er es endlich loswurde, seine Gefühle bekennen konnte. Sie konnte ihn seinetwegen zum Teufel jagen, ihn auslachen. Danach konnte sie ihn lachend davonjagen, ihm die Zusammenarbeit kundigen, ihn fallenlassen, wie er es verdiente. »Ich frage Sie noch einmal«, warnte sie.
    Vielleicht hatte sie eine Waffe bei sich, etwa in der Bademanteltasche. Großer Gott, wie hatte er sich nur in eine solche Lage bringen können. Er hatte doch nichts Böses vorgehabt, als er nach der Arbeit hierhergefahren war. Er hatte einfach nur dasitzen und nachdenken wollen - über den Sinn des Lebens und wie er dazu stand. »Nicht schießen«, sagte er, und langsam, mit erhobenen Händen, stand er auf.
    Hammer hatte zunächst gedacht, irgendeinen Spinner vor sich zu haben. Aber Nicht schießen? Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Das war eindeutig jemand, der wußte, wer sie war. Wie sollte dieser Mensch sonst darauf kommen, daß sie bewaffnet war und nicht zögern würde, zu schießen. Seit jeher hatte Hammer die unausgesprochene Befürchtung gehegt, ein Verrückter mit fehlgeleitetem Sendungsbewußtsein könnte sie eines Tages umbringen. Ermorden. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, war ihre Devise. Sie ging zwischen den Büschen auf dem gepflasterten Weg auf ihn zu. Brazil empfand nur noch Panik. Er warf einen hektischen Blick auf seinen Wagen auf der Straße, doch zugleich war ihm klar, daß sie sein Kennzeichen erkannt hätte, bevor er noch eingestiegen und fortgefahren wäre. Er beschloß, ganz locker zu bleiben und den Unschuldigen zu spielen. Während sie in ihrem weißen Bademantel immer näher kam, lehnte er sich zurück.
    »Warum sitzen Sie hier?« Sie war nur noch wenige Schritte entfernt.
    »Ich wollte niemanden stören«, entschuldigte er sich.
    Hammer zögerte, weil sie damit nicht gerechnet hatte. »Es ist fast zwei Uhr morgens«, wiederholte sie.
    »Es ist sogar schon etwas nach zwei«, sagte Brazil, das Kinn in die Hand gestützt, sein Gesicht halb im Dunkeln. »Mir gefällt dieser Platz. Ihnen nicht auch? Es ist so friedlich hier, ideal zum Nachdenken und Meditieren. Der richtige Ort, um seine spirituelle Mitte wiederzufinden.«
    Hammer fragte sich, mit was für einem Menschen sie es hier wohl zu tun hatte. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank.
    »Wer sind Sie?« fragte sie. Das milde Licht schmeichelte ihrem Gesicht. Sie sah ihn neugierig an. »Niemand besonderes«,

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