Die Hornisse
sagte Brazil.
Und ob er etwas Besonderes war. Sie dachte an ihr schreckliches Leben, den gräßlichen Mann da drinnen in ihrem Haus. Dieser Mann hier neben ihr auf der Bank verstand. Er schätzte ihre Persönlichkeit. Er respektierte ihre Position, ihre Macht. Zugleich aber begehrte er sie als Frau. Er wollte sie kennenlernen, von ihren Gedanken und Vorstellungen hören, bis zurück in die Kindheit. Seine Hand zeichnete die Linie ihres Halses nach bis tief hinunter in ihren weißen, weichen Bademantel. Er ließ sich Zeit. Er küßte sie, zögernd, bis er sicher war, daß sie seinen Kuß erwiderte. Seine Zunge tastete sich über ihre Unterlippe vor, bis seine und ihre Zunge einander fanden.
Noch bevor der Traum zu Ende war, erwachte er in seinem Zimmer, in das er sich eingeschlossen hatte. Er litt schrecklich. Oh Gott, warum konnte es nicht wahr sein? Aber es war nicht wahr. Zwar hatte er wirklich in dem winzigen Park gesessen und zu Hammers Haus hinübergesehen. Sie war herausgekommen und hatte sich auf die Hollywoodschaukel gesetzt. Doch alles andere war nur in seinem bruchstückhaften Traum geschehen. Sie wußte nicht, daß er dort in der Dunkelheit saß und über der Veranda die Flagge von North Carolina im Wind flattern hörte. Hammer ahnte nichts. Seine Lippen hatten die ihren nie berührt, nie hatte er ihre sanfte Haut liebkost. Und das würde auch nie geschehen. Er schämte sich entsetzlich. Er war frustriert und fühlte sich elend. Sie war wahrscheinlich dreißig Jahre älter als Brazil. Das war doch nicht normal. Irgend etwas konnte mit ihm nicht in Ordnung sein. Als er um Viertel vor drei nach Hause gekommen war, hatte er seinen Anrufbeantworter abgehört. Vier Anrufe, aber jedesmal war wieder aufgelegt worden. Das hatte seine Stimmung noch verschlechtert. Diese perverse Schnalle war bestimmt nur hinter ihm her, weil auch er in gewisser Weise abartig war. Es mußte schließlich einen Grund geben, warum eine so kranke Person sich zu ihm hingezogen fühlte. Wütend zog er im Morgengrauen seinen Jogginganzug an. Er griff sich Tennisschläger und Bälle und trottete aus dem Haus.
Der Morgen war taufrisch, doch die Sonne ließ bereits ihre Kraft ahnen. Die Magnolien auf seinem Weg waren voll erblüht.
Ihre wachsartigen weißen Blüten verströmten Zitronenduft. Er überquerte den Davidson Campus, lief eine enge, gewundene Straße hinter dem Jackson Court hinunter und erreichte schließlich die Laufbahn. In hohem Tempo brachte er seine zehn Kilometer hinter sich, anschließend trainierte er wütend Aufschläge. In der Halle stemmte er Gewichte, sprintete mehrmals eine kurze Strecke, machte Liegestütze und Situps, bis schließlich die körpereigenen Endorphine ihre Wirkung zeigten.
Hammer hingen die unerfreulichen Morgenstunden nach. Außerdem war es ihr recht geschehen, daß sie entgegen ihrer Gewohnheit mit West zu Mittag gegessen hatte. West und irgendwelcher Ärger, das gehörte zusammen. Hammer hatte an diesem Tag ihre Uniform getragen, was allein schon äußerst ungewöhnlich war. Fünfzehn Jahre lang hatte sie es nicht für notwendig gehalten, sich mit dem District Attorney, der Bezirksstaatsanwältin, kurz D.A. genannt, über Gerichtstermine auseinanderzusetzen, und auch in diesem Fall wollte sie keine langwierigen Diskussionen. Sie glaubte an die Wirksamkeit der direkten persönlichen Konfrontation und war entschlossen, dieses Mittel auch in diesem Fall anzuwenden. Seit ungefähr neun Uhr morgens hatte Hammer jetzt im Empfangsbereich des Criminal Court Building, eines großen Granitbaus, auf die Spitzenstaatsanwältin der Stadt gewartet.
Nancy Gorelick war so oft wiedergewählt worden, daß sie keine Konkurrenz mehr zu fürchten brauchte. Die meisten Bürger hätten sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, an die Urnen zu gehen, wären da nicht noch andere Kandidaten gewesen, für oder gegen die man stimmen konnte. Man konnte nicht gerade sagen, daß sie und Hammer gute Freundinnen waren. Und natürlich wußte die D.A. genau, was sie vom Chief zu halten hatte. Zudem hatte sie von Hammers Heldentat in der Morgenzeitung gelesen. Batman und Robin. So ein Schwachsinn. Gorelick war Republikanerin mit Leib und Seele.
Für sie galt die Devise, erst hängen und dann klären. Sie hielt nichts von Leuten, die glaubten, man müsse nach besonderen Entschuldigungen zu ihren Gunsten suchen.
Warum Hammer jetzt so überraschend bei ihr vorsprach, war ihr klar.
Gorelick ließ Hammer eine ganze Weile warten,
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