Die Hudson Saga 01 - Haus der Schatten
aber anscheinend ändert sich nichts. Die
erste Gelegenheit, die sich dir bietet, dieses Höllenloch zu verlassen, wirst du nutzen, hörst du?«
»Ich werde dich nie zurücklassen, Mama«, versprach ich.
»Aber sicher wirst du das, Schätzchen. Das sollst du doch. Ihr Kinder seid die Hoffnung.«
Sie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer. Nachdem ich fertig aufgeräumt hatte, wollte ich in unser Zimmer gehen, aber Roy kam an die Wohnzimmertür. Er hatte nicht wirklich ferngesehen, sondern den richtigen Augenblick abgepasst.
»Komm einen Augenblick herein, Rain«, bat er. »Was?«
»Komm herein«, sagte er entschiedener. Ich senkte den Kopf und ging ins Wohnzimmer.
»Ich muss noch Hausaufgaben machen, Roy.«
»Das kannst du auch. Aber erst will ich, dass du mir die Wahrheit sagst, Rain. Was ist heute passiert?«
»Oh, Roy, mach doch nicht noch mehr Ärger.«
»Ich befürchte, dass genau das passieren wird, wenn ich nicht alles weiß. Du lügst mich nicht an, Rain. Wir sagen einander immer die Wahrheit«, sagte er leise. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht – sanft, liebevoll, bittend.
»Beni hat sich von ihren Freundinnen überreden lassen, ins Oh Henry’s zu gehen«, enthüllte ich. »Ich ging mit, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, nur bin ich dann in Schwierigkeiten geraten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Jemand namens Jerad drängte sich mir auf, seine Freunde umzingelten mich, und dann küsste er mich.«
Ich wollte ihm nicht alles erzählen. Ich sah, dass es schon reichte, dass ich geküsst worden war.
»Was passierte dann?«
»Ich rannte hinaus, Beni folgte mir, und wir kamen nach Hause. Das ist alles. Es wird nicht wieder vorkommen. Das verspreche ich, Roy.Wir gehen nie wieder dahin.«
»Jerad Davis?«
»Ja«, bestätigte ich.
»Er hat schon Leute umgebracht, Rain«, sagte Roy.
Mein Herz pochte so heftig, dass ich nach Luft schnappen musste.
»Wenn er je wieder in deine Nähe kommt, muss ich das wissen, hörst du?«
»Ja«, sagte ich und nickte.
»Beni wird unbändig«, sagte er und schaute in Richtung auf unser Zimmer. »Eines Tages wird sie noch in richtige Schwierigkeiten geraten. Ich will nicht, dass du immer hinter ihr herrennst. Sie zieht dich mit sich herunter.«
»Ich kann sie nicht im Stich lassen, Roy.«
»Du lässt sie nicht im Stich, aber wenn sie stur ist, lass nicht zu, dass sie dich herunterzieht«, warnte er. »Versprich es mir.« Er griff nach meiner Hand. »Versprich es mir, Rain.«
»Ich verspreche es, Roy«, sagte ich. Seine Augen wurden wieder sanft.
»Gut«, sagte er. »Du bist zu gut für diese Gegend hier, Rain. Eines Tages muss ich dich hier rausholen.«
»Wir alle müssen hier raus, Roy.«
»Sicher«, sagte er.
Er starrte mich eindringlich an, verwirrt legte ich den Kopf schief. Er zwinkerte ein paar Mal, dann raffte er sich auf. »Mach jetzt deine Hausaufgaben«, sagte er wie ein älterer Bruder, »und versuch nicht wieder, etwas vor mir geheim zu halten.«
Ich lächelte ihn an, dann beugte ich mich vor und küsste ihn auf die Wange.
Er stand noch in der Tür und schaute hinter mir her, als ich die Zimmertür erreichte und mich umschaute. Sein Blick stöberte den kleinen Schmetterling in meinem Herzen auf, der auch Alarm schlug, wenn Jungen in der Schule oder auf der Straße mich anstarrten.Vielleicht spürte Roy auch die Flügel meines Schmetterlings, weil er sich rasch abwandte und verschwand.
Verwirrung brachte ebenso wie Lärm im Radio meine Gedanken durcheinander. Ich flüchtete mich in meine Hausaufgaben, dankbar für diese Ablenkung, die mich den Tag vergessen ließ.
KAPITEL 2
Durch dick und dünn
W eder Beni noch ich wussten davon, aber nachdem ich Roy erzählt hatte, was im Oh Henry’s passiert war, überredete er Slim, dass er jeden Tag später zur Arbeit kommen durfte, damit er heimlich ein Auge auf uns haben konnte, wenn wir von der Schule nach Hause gingen. Er schlenderte hinter uns her und hielt sich dabei außer Sichtweite. Er hatte Slim versprochen, deswegen jeden Samstag eine zusätzliche Stunde umsonst zu arbeiten, aber davon erfuhr ich erst viel später.
Beni flirtete weiter mit Carlton Thomas, der sie ständig dazu überreden wollte, doch wieder ins Oh Henry’s zu kommen. In der darauf folgenden Woche stritten wir uns deswegen heftig. Jeden Tag hatte sie schlechte Laune, weil ich mich weigerte, noch einmal ins Oh Henry’s zu gehen. Es war ihr egal, ob
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