Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
er. »Und nicht nur mitten in der Nacht. Fast immer, wenn sie jetzt einschläft, steht sie auf und tut Sachen.«
»Was für Sachen?«
»Schaut nach Latisha, als wäre sie noch da. Ich meine nicht nur, sich um ihre Kleidung zu kümmern oder dafür zu sorgen, dass ihr Zimmer sauber ist, und zu ihrem Grab zu gehen. Sie spricht mit ihr und dann …«
»Was?«
»Sitzt sie in dem Schaukelstuhl in Latishas Zimmer und hält die Arme, als läge Latisha darin, und sie singt ihr Schlaflieder vor.Vorletzte Nacht bin ich aufgewacht und hörte sie singen. Es war gruselig. Ich meine nicht gruselig wie Gespenster. Es ängstigte mich, sie etwas so Verrücktes tun zu sehen.
Als Nächstes hörte ich, wie Roy sie drängte, wieder ins Bett zu kommen. Sie antwortete ihm, dass sie das Baby erst wieder in den Schlaf wiegen müsse, und er redete mit ihr, als sähe er Latisha in ihren Armen, und sagte: ›Sie schläft doch, Glenda. Leg sie in die Wiege.‹<
Alle möglichen Erinnerungen stürmten auf mich ein, als ich dieses Zeug hörte. Ich dachte, ich träumte noch, einen Alptraum, wenn du weißt, was ich meine?«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Ich stand auf und schaute zu ihnen hinein. Roy hockte neben ihr, streichelte ihr den Arm und redete leise auf sie ein. Er wollte sie wecken, aus diesem Alptraum herausholen, aber sie ließ sich nicht wecken. Schließlich drehte er sich um und sah mich. Er starrte mich einfach an. Ich habe noch nie so einen Blick bei ihm gesehen. Er war nicht wütend oder traurig. Er war eher …«
»Was, Harley?«
»Eher verängstigt. Angst in Roys Gesicht zu sehen, ließ mich innerlich zu Eis erstarren.
›Was ist los mit ihr?‹, fragte ich ihn.
›Geh wieder schlafen‹, sagte er. ›Du kannst doch nichts tun.‹<
Trotzdem rief ich: ›Ma!‹, und sie … sie fing an zu weinen. Sie weinte so heftig, dass ihr Körper bebte, als würde er in Stücke zerspringen. Roy hielt sie fest, und sie brachte auch ihn zum Beben. Mit einer Handbewegung schickte er mich weg, und ich ging wieder in mein Zimmer. Es schien Stunden zu dauern, bis ich hörte, wie er sie ins Bett zurückführte.
Am Morgen stand sie nicht auf, um uns Frühstück zu machen. Roy erledigte das. Ich schaute zu ihr hinein, aber sie war überhaupt nicht ansprechbar. Ich hatte Angst, sie allein zu lassen, und wollte deine Mutter holen. Aber Roy wurde wütend und meinte, Rain hätte genug eigene Probleme. Sie brauchte nicht auch noch das.
›Das ist nicht nur dein Problem‹, fauchte ich ihn an. ›Sie ist meine Mutter.‹
›Dann mach ihr keinen Kummer‹, lautete seine Antwort. Als wäre das, was passierte, meine Schuld.«
»Ich glaube nicht, dass er das gemeint hat, Harley.«
»Na ja«, sagte er und ging weiter, »ich finde, er hätte deine Mutter holen sollen. Manchmal glaube ich, er macht sich mehr Sorgen um sie als um meine Mutter.«
»Nein, ich …«
»Du hörst ja nicht, was er zu uns sagt, Summer«, platzte
Harley heraus und wirbelte zu mir herum. »Was er zu meiner Mutter sagt, meine ich. So lange ich mich erinnern kann, hat er sie mit deiner Mutter verglichen und ihr das Gefühl gegeben, nicht so hübsch oder so gut zu sein. Wenn meine Mutter sich je über irgendetwas beklagte, lautete seine Entgegnung immer: ›Du solltest froh sein, dass du nicht im Rollstuhl sitzt, Glenda.‹ Seit Jahren hält er das Bild deiner Mutter hoch und benutzt es als Peitsche, um meine Mutter unten zu halten wie ein Tier im Käfig.«
Er imitierte Onkel Roy weiter.
»›Warum pflegst du dich nicht so gut wie Rain? Sie ist gelähmt, aber trotzdem kümmert sie sich um ihr Haar, ihr Gesicht. Sie achtet auf ihre Gesundheit und macht Fitnessübungen, so gut sie kann.‹ So ein Zeug.«
»Das habe ich noch nie gehört«, sagte ich.
»Nein, das würde er nie in Gegenwart von dir oder deiner Mutter oder deinem Vater tun.«
»Vielleicht glaubte er, das sei gut, das würde ihr helfen«, schlug ich zögernd vor.
Er blieb wieder stehen und lächelte mich an, aber es war ein schiefes Lächeln.
»Komm schon, Summer. Du bist doch viel klüger als ich, obwohl ich ein Jahr älter bin. Du weißt doch, dass Roy deine Mutter vergöttert. Er behandelt sie nicht wie eine Stiefschwester. Sie braucht doch nur einen Blick auf irgendetwas zu werfen, das sie haben möchte, und er springt, um es zu erledigen.«
Ich schaute rasch weg.
»Ich sage ja gar nicht, dass deine Mutter eine solche Hingabe nicht verdient hätte. Sie hat viel für ihn getan, aber ich weiß, dass
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