Die Hüter der Nacht
genommen werden konnte, wie man ihm versichert hatte. Er hatte darauf gestarrt, bis die Gedanken an all die vergangenen Jahre, die Hölle des Arbeitslagers und die darauf folgende, noch fremdere Hölle, seinen Verstand betäubt hatten. Dann hatte er sich wieder mit der vergangenen Woche beschäftigt, eine so traurige und tragische Zeit, die nicht einmal durch die wunderbare Entdeckung des Hessler Institute versüßt werden konnte.
Projekt 4601 hätte die Krönung seines Lebenswerks sein sollen. Seine letzte Buße für das Geheimnis, das er all die Jahre bewahrt hatte. Dank Hessler Industries würde Abermillionen Menschen endloses Leiden erspart bleiben. Kinder würden nicht mehr durch tückische Krankheiten, die grausam und zufällig zuschlugen, ihre Eltern verlieren, und Eltern nicht ihre Kinder. Krebs, AIDS, ALS … die Liste ging weiter und weiter. Das Potenzial von Projekt 4601 war unbegrenzt.
Doch Paul fühlte sich nicht würdig, dass er sich das Verdienst dafür anrechnete. Wie konnte er das, wo er doch befohlen hatte, das Projekt einzustellen? Nein, das Verdienst gehörte allein seinem Sohn Ari, der aber nicht lange genug gelebt hatte, um es zu beanspruchen.
Paul glaubte schließlich, den großen Plan zu verstehen, der hinter allem steckte. Er hatte sich gerade zu fragen begonnen, ob er genug getan hatte, genug gebüßt hatte, um die letzte Bestrafung für seine Sünden abzuwenden, als der Killer beim Flughafen Ben-Gurion aufgetaucht war.
Paul lehnte sich mit den Schultern gegen die raue Mauer und dachte an die Kosten und die Mühe, die er für die Rekonstruktion dieser Burg aufgewandt hatte. Zu schade, dass Menschenleben nicht ebenso leicht neu geformt, auseinander genommen, wieder zusammengesetzt und in ihrer ursprünglichen Großartigkeit und Schönheit restauriert werden konnten.
Der Wind pfiff durch die Mauern der Burg; es klang wie das Klagen eines Geistes. Vor ihm schien es im alten Kamin zu prasseln. Paul Hessler hustete vom Staub und stand auf.
Er wusste, dass die Zeit kommen würde, da er der Welt seine Geschichte preisgeben musste, sie erzählen musste, bevor die Mörder, deren Kommen Franklin Russett befürchtete, ihn schließlich finden würden. Im Augenblick jedoch wollte er nur fort von dieser Stätte, die das dunkelste seiner Geheimnisse enthielt.
Die Steine, von denen die enge Wendeltreppe gesäumt war, fühlten sich kalt und brüchig an, verbunden mit dem grauen Mörtel des Alters. Die gewundenen Stufen waren rissig und an den ausgetretenen Stellen geschwärzt. Hessler stieg sie vorsichtig hinunter, ließ seine Erinnerungen zurück, eine Hand gegen die Mauer gestützt, um nicht zu stürzen.
Doch der wirkliche Sturz würde noch kommen, das wusste er, und es gab nichts, womit er ihn verhindern konnte.
SECHSTER TAG
68.
Weit nach Mitternacht saß Ben immer noch hinter seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium in Jericho und dachte über seinen nächsten Schritt nach. Er musste Zugang zu den drei Firmen in Israel bekommen, seine übrig gebliebenen Tatverdächtigen. Und dafür brauchte er Hilfe.
Er brauchte Danielle.
Aber sie meldete sich nicht auf ihrem Mobiltelefon. Es konnte sein, dass die Israelis als Vergeltungsmaßnahme die Übertragungstürme störten, wie sie es vor kurzem schon einmal getan hatten. Ben hoffte, dass dies der Fall war, denn er wollte nicht an die Alternative denken: dass Danielle in Deutschland, wohin sie auf der Fährte der ermordeten Holocaust-Überlebenden gereist war, etwas zugestoßen war. Ben wusste, dass sie schreckliche Angst davor hatte, dass ihr Vater in die geheimnisvolle Sache verwickelt gewesen war, die Asher Bain herausgefunden hatte. Ben hatte ihr von der Reise abgeraten, doch Danielle hatte sich nicht umstimmen lassen, obwohl sie im Augenblick nicht in bester Verfassung war.
Ben machte sich große Sorgen um sie. Er wählte immer wieder ihre Nummer, selbst als offensichtlich war, dass sich niemand melden würde. Er machte sich Vorwürfe, weil er sie überhaupt hatte reisen lassen.
Schließlich schlug er einen Aktenhefter auf, der am Rand seines Schreibtisches lag. Darin lagen Außenberichte von den Beamten, die er mit der Bewachung von Shahir Falayas Nachbarschaft beauftragt hatte – auf die Möglichkeit hin, dass vielleicht jemand die Person gesehen hatte, deren Name von der Festplatte von Shahirs Computer entfernt worden war. Ben erwartete nichts Besonderes, als er mit der Lektüre der Berichte begann, stellte dann aber überrascht fest,
Weitere Kostenlose Bücher