Die Hüter der Nacht
bringen Sie sofort hin.«
»Also ist er wohlauf. Seine Familie ebenfalls?«
»Im Augenblick noch, Inspector«, erwiderte Wallid und ergriff Ben am Arm wie einen alten Freund. »Sie kannten die Männer, nicht wahr?«
»Sie kennen sie auch, sidi.«
»Ich? Wieso?«
»Aus dem Fußballstadion. Sie waren Fasils Leibwächter.«
»Unglaublich!«
»Überhaupt nicht. Wissen Sie, Mahmoud Fasil war der Mann, der die Festplatte vom Computer des ermordeten Shahir Falaya gestohlen hat.«
69.
»Weiss hatte Recht – Paul Hessler hat meinen Vater getötet, Pakad Barnea«, war die letzte Bemerkung Hans Mundts auf der 800 Kilometer langen Fahrt nach Lodz. Sie schafften im Schnitt 140 Kilometer die Stunde mit dem Mercedes Diesel und hätten ihr Ziel viel eher erreicht, wenn er nicht mehrere Male wegen Danielles empfindlichem Magen hätten Halt machen müssen. Frische Luft und Kräcker sorgten für kurzfristige Erleichterung, doch nur nach einer längeren Rast hätte Danielle sich besser gefühlt. Die Nickerchen während der Fahrt waren allenfalls kurze Pausen, nach denen sie sich nur noch schlechter fühlte.
Als sie endlich in Lodz eintrafen, war es später Morgen. Polens zweitgrößte Stadt war wie eh und je industriell geprägt und hatte sich seit dem Ende des Kommunismus kaum verändert. Sämtliche Gebäude waren mit Ruß und Schmutz überzogen, und der Horizont wurde von hohen, rauchenden Fabrikschloten beherrscht. Lodz, dunkel und grau, schien für immer in einer Vergangenheit gefangen zu sein, aus der die Stadt nicht zu entkommen wusste.
Mundt fuhr auf einer Umgehungsstraße um die Stadt herum und setzte die Fahrt nach Norden fort, wobei er offenbar von neuem eine Route wählte, auf der er schon oft gefahren war. Danielle wusste, dass sich das Arbeitslager, aus dem Paul Hessler Ende 1944 entkommen war, weit außerhalb der Stadt an der Straße nach Lecyca in Richtung Norden lag. Dieses Lager und zwei andere in der Gegend hatten ihre Arbeiter aus dem Getto von Lodz bezogen.
Danielle nahm an, dass das Lager längst verschwunden war, besonders nachdem sie die letzten der mit Brettern vernagelten Relikte der Textilfabriken am Straßenrand passiert hatten. Doch Mundt fuhr weiterhin auf das Marschland und die Wälder von Lecyca am Bzura-Fluss zu. Sehr zu Danielles Überraschung hielten sie bei einem großen, verfallenen Gebäude, das allein auf einer Lichtung stand.
Mundt wandte sich steif Danielle zu und brach endlich sein langes Schweigen. »Das ist vom Arbeitslager bei Lodz übrig geblieben, dem bekanntesten der drei von den Nazis betriebenen Lager in diesem Gebiet. In den Jahren vor dem Krieg ist es eine Schuhfabrik gewesen. Die Nazis stellten dort Stiefel her.«
Mechanisch öffnete Mundt die Tür an der Fahrerseite und stieg aus. Danielle folgte ihm, hielt jedoch Distanz.
»Fast zweitausendachthundert Juden arbeiteten hier in den Jahren 1942 bis 1944, bis das Lager geschlossen wurde«, fuhr Mundt fort. »Sie wurden hauptsächlich aus dem Getto in Lodz hierher transportiert. Zweitausendfünfhundert starben an Hunger oder Krankheit oder wurden ermordet. Nur einhundert konnten in diesen Jahren entkommen, und zweihundert weitere überlebten in dem Chaos der letzten Befehle, die nie ganz ausgeführt wurden. Ebenso wenig wie die Zerstörung des Lagers, da Weiss flüchtete, ohne seine letzten Befehle durchzuführen.«
Als sie sich näherten, wurde der Verfall des alten Fabrikgebäudes noch offensichtlicher. Teile des Daches waren eingestürzt. Keine Fensterscheibe war heil geblieben, und große Teile der Wände hatten sich gewölbt und sahen aus, als würden sie beim nächsten Sturm zusammenbrechen. Es war feucht und kalt, und Danielle fröstelte in dem nasskalten Nebel, der sie umhüllte. Sie folgte Mundt durch die feuchten Schwaden näher zum Fabrikgebäude. Die Brise trieb den Geruch von verfaultem Holz und modriger Erde heran.
Mundt blieb vor einer Gedenktafel aus Granit stehen, die ein paar hundert Meter von dem vernagelten, mit einer Kette versehenen Eingang in den Boden zementiert war.
»Die Namen derjenigen, die in Massengräbern auf dem Gelände des Lagers vergraben wurden«, erklärte Mundt. »Die polnische Regierung will diese Stätte nicht zerstören, hält es aber auch nicht für nötig, sie instand zu halten. Sie lässt hier einfach alles verrotten. Passend, finde ich.«
Mundt fuhr mit der Hand über die eingemeißelten Namen auf der Gedenktafel.
»Den Namen meines Vaters werden Sie hier nicht finden,
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