Die Hüter der Nacht
wandte sich zur Tür. »Keines mehr.«
Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, den Türgriff zu drehen, bis Ben die Tür für sie öffnete.
»Danke, Doktor«, sagte er, als Danielle im Wartezimmer verschwand, das sich mit Patienten füllte. »Sie wird sicherlich bald Kontakt mit Ihnen aufnehmen.«
16.
»Ich hätte es fast dort verloren«, sagte Danielle, als sie Ben an einem Tisch in der Bäckerei Bracha gegenübersaß.
»Das kann ich dir nicht verdenken«, sagte Ben. Sie hatte ihn daran erinnert, nach dem gelben Baldachin an Jerusalems Hurva Square Ausschau zu halten. Es war fast unmöglich gewesen, einen freien Parkplatz zu finden, doch der Duft von frischen Backwaren wirkte entspannend auf Ben, als er erst in der Bäckerei war. Er war oft hier hingegangen, wenn er in Jerusalem gewesen war, für gewöhnlich mit Danielle – unter geschäftlichen Vorwänden. In der Bäckerei duftete es, wie es in der Küche seiner Mutter in Ramallah geduftet hatte, wenn sie sich auf die Familientreffen vorbereitet und gebacken hatte.
»Ich werde eine zweite Meinung einholen. So viele Meinungen wie nötig.«
»Bis du hörst, was du hören willst?«
»Genau. Kannst du's mir verdenken?«
»Überhaupt nicht.«
Sie schaute auf die Tasse Kaffee, die Ben ihr von der Theke geholt hatte, zusammen mit einem Körbchen mit Bakloua und Ketaify. Keiner von ihnen hatte das Gebäck bisher angerührt, denn sie waren immer noch mit den Worten des Arztes beschäftigt. »Ich nehme an, ich brauche mir keine Sorgen mehr wegen Koffein zu machen.«
»Ich habe dir koffeinfreien geholt«, sagte Ben.
Danielle bemühte sich um ein Lächeln. »Meinst du, ich verschwende meine Zeit?«, fragte sie.
»Weißt du, wie oft ich die Nacht von neuem erlebt habe, in der meine Familie ermordet wurde, Danielle?«
»Du brauchst nicht darüber zu reden.«
»Doch, das tue ich, denn es hilft. Diese Nacht habe ich tausende Male von neuem durchgemacht und mich gefragt, was ich anders hätte machen können, was geschehen wäre, wenn ich ein paar Minuten früher heimgekommen wäre. Diese paar Minuten hätten alles ändern können, und ich würde alles dafür geben, sie zurückzubekommen. Aber ich kann es nicht.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Dass du jede nur mögliche Quelle ausschöpfen sollst. Die Tragödie ist schlimm genug. Der Gedanke, dass du etwas dagegen hättest tun können, ist schlimmer.«
Danielle nickte, und in ihren Augen brannten ungeweinte Tränen. Ihr Gesicht war traurig und blass. »Wenigstens habe ich meinen Beruf.« Sie nippte an ihrem Kaffee, der so stark schmeckte, wie der Sarkasmus in ihrer Stimme klang.
»Dann laufen die Dinge mit Moshe Baruch nicht gut?«
»Doch, sie laufen prima, solange ich weiterhin all diese Fälle toter oder vermisster Kinder abschließe.«
»Dieser Dreckskerl …«
»Er will, dass ich den Job drangebe.«
»Warum tust du es nicht?«
»Und was soll ich stattdessen tun?«
»Zum Shin Bet zurückgehen.«
Danielle spürte, wie Zorn in ihr aufstieg, und sie bemühte sich, ihn nicht auf Ben zu richten. »Nicht, wenn Baruchs früherer Vorgesetzter immer noch das Sagen hat.«
»Zur Armee?«
Sie schüttelte den Kopf. »In Uniform würde ich nicht mehr lange gut aussehen.«
Ben musterte sie. »Ich möchte dir etwas sagen. Wenn die Dinge … nicht hinhauen …« Er suchte nach Worten. »Und du möchtest …«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Dann lass es mich sagen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Was ist mit einer gemeinsamen Zukunft für uns?«
»Darüber haben wir lang und breit gesprochen.«
»Die Dinge haben sich jetzt geändert.«
»Das nicht«, sagte Danielle.
»Ich will nicht dich und das Baby verlieren.«
Danielle stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und sah Ben vorwurfsvoll an. »Du bist der gleichen Meinung wie der Arzt, nicht wahr?«
»Ich würde gern einige Fragen stellen, mich bilden.«
»Aber du bist seiner Meinung.«
Ben nickte. »Ja.«
»Würdest du das Gleiche empfinden, hätten wir die Absicht gehabt, das Kind gemeinsam aufzuziehen?«
»Ich finde, du musst sämtliche Alternativen erkunden. Aber du darfst nicht den Sinn für die Realität verlieren.«
Danielle stemmte die Ellenbogen auf den Tisch, und das alte Feuer und Leben kehrten in ihre Augen zurück. »Die Realität ändert sich in der modernen Medizin sehr schnell. Dr. Barr hat meinen Fall auf der Basis dessen eingeschätzt, was heutzutage bekannt und verfügbar ist. Aber was ist mit dem Wissensstand in
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