Die Hüter der Nacht
sechs Monaten, in einem Jahr? Bei den Fortschritten der Medizin könnte man eine neue Behandlung entwickelt haben, ein neues Medikament zur Behandlung dieser schrecklichen Dinge. Wie würden wir uns dann fühlen? Warum müssen wir das übereilen?«
»Das tun wir nicht«, sagte Ben und benutzte wie sie den Plural. »Genau das habe ich gesagt.«
»Ich muss Hoffnung haben. Ich muss mich an etwas klammern können. All unsere Möglichkeiten ausschöpfen können.«
»Da bin ich deiner Meinung.«
»Alternative Medizin, Gesundbeterei, rumänische Zigeunerinnen … was auch immer.«
»Bei der Gesundbeterei bin ich mir nicht so sicher«, sagte Ben und wartete, bis Danielle ein Lächeln zeigte, bevor er selbst lächelte.
»Weißt du, Baruch teilt mir diese Fälle von toten Kindern zu, weil er mich fertig machen will. Aber diese Genugtuung gebe ich ihm nicht. Stattdessen schließe ich jeden Fall ab wie befohlen.«
»Seit wann fällt die Aufklärung solcher Verbrechen in die Zuständigkeit der Nationalpolizei?«
»Seit Moshe Baruch kommissarischer Polizeichef geworden ist und ich nicht gekündigt habe.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Aber gestern fand ich tatsächlich einen Fall, in dem nicht richtig ermittelt worden ist.«
»Was ist geschehen?«
»Selbstmord an einer höheren Schule. Aber die Tatwaffe wurde neben der linken Hand des Opfers gefunden, obwohl er Rechtshänder war.«
»Jemand hat versucht, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen?«
»Davon gehe ich aus, ja.«
Ben trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Tisch. »Ich habe gestern in dem neuen Krankenhaus in Jericho eine Frau kennen gelernt, die gerufen worden war, um die Leiche ihres Sohnes zu identifizieren, der bei einem scheinbar zufälligen Verbrechen ermordet wurde. Aber das Beweismaterial stützt die These, dass es Zufall war, ganz und gar nicht. Und die Frau beteuert, dass ihr Sohn seit mehr als einer Woche vor seinem Tod vor irgendetwas Angst gehabt hat. Ich habe einige Zeit an seinem Computer verbracht, weil ich hoffte, dort einen Hinweis zu finden, doch die Dateien sind gelöscht worden.« Ben blickte kopfschüttelnd vor sich hin. »Ich frage mich, ob es vielleicht etwas damit zu tun hat, dass der Junge eine Schule in Israel besucht hat.«
»Eine Schule in Israel?«
Ben nickte. »Eine experimentelle Gemeinschaftsschule bei Abu Gosh.«
»O Gott«, sagte Danielle und verschüttete fast ihren Kaffee.
17.
Die Gemeinschaftsschule war im Schatten der trockenen, braunen Judäischen Hügel auf halbem Weg zwischen dem arabischen Ort Abu Gosh und dem israelischen Dorf Beit Nakufah erbaut worden. Das eingeschossige, weizenfarbene Gebäude mit Flachdach war von einem Stacheldrahtzaun umgeben und wurde von vier israelischen Soldaten bewacht, die mit Galil-Sturmgewehren bewaffnet waren. Dahinter erstreckten sich einige staubig braune Spielfelder in der Sonne, deren Gras trotz starker, ständig rotierender Sprinkler abgestorben war. Der Kalk von Markierungslinien auf den Spielfeldern wurde von jeder starken Brise in die Luft getragen.
»Du überlässt das Reden besser mir«, schlug Danielle vor, die ihren Schock über den Zusammenhang zwischen den Fällen der beiden toten Schüler, Michael Saltzman und Shahir Falaya, gerade erst überwunden hatte. Nahm man Michaels Freundin Beth Jacober hinzu, waren drei Teenager, die diese Schule besucht hatten, innerhalb der letzten zehn Tage gestorben. »Das mag eine israelisch-palästinensische Gemeinschaftsschule sein, aber ich bezweifle, dass man dort jemals einen palästinensischen Polizisten kennen gelernt hat.«
Tatsächlich wollten die Soldaten Ben den Zutritt zur Schule verweigern. Erst als Danielle darauf hinwies, dass sein Ausweis immer noch ungehinderten Zugang zu diesem Gebiet gewährte, und sie an die kooperative Natur der Schule erinnerte, gaben sie widerstrebend nach.
Drinnen wirkte das Gebäude größer als von außen. Ein Dutzend Klassenräume fassten 150 israelische und palästinensische Schüler. Ein bewaffneter, Dienst tuender Soldat in der Halle verwies sie ans Hauptbüro, wo eine Frau damit beschäftigt war, Notizen in Boxen zu stecken, die mit Namen von Lehrern beschriftet waren.
»Verzeihen Sie«, sagte Danielle und hielt ihren Ausweis bereit, als die Frau sich umwandte. »Ich bin Pakad Barnea von der Nationalpolizei, und dies ist Inspector Bayan Kamal von der palästinensischen Polizei. Wir möchten gern mit dem Direktor sprechen.«
»Das bin ich«, sagte die Frau und musterte sie
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