Die Hüter der Nacht
Hessler war jedoch das charakteristische Merkmal seiner Türme die Verbindungsbrücke im 41. und 42. Stock. Sie überspannte die 70 Meter zwischen den Zwillingstürmen, gestützt von vier in den Türmen verankerten Trägern aus jeweils zwei Tonnen Stahl.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis der Expresslift ohne Stopp und nahezu lautlos die gesamte Distanz bis zu Hesslers Büro in der 19. Etage emporschoss. Paul trat hinaus in das geräumige Büro, das von Glas und orientalischer Architektur beherrscht wurde. Die Beleuchtung war absichtlich schwach; nur direkt über dem Schreibtisch, dem Konferenztisch und den Sesseln brannten helle Lampen. Shoji-Schirme bildeten Raumteiler zwischen verschieden gestalteten Bereichen des riesigen Büros, und eine extravagante Sammlung asiatischer Kunst bedeckte die Wände. Sämtliche Objekte waren Originale. Die meisten hatte Ari in den beiden Monaten entdeckt und gekauft, als er nach dem Examen in Wirtschaftswissenschaft mit Paul Hesslers Kollegen in Tokio, Singapur und Hongkong gearbeitet hatte.
Paul hatte das Büro nach dem Tod seines Sohnes nicht mehr betreten, und er fühlte sich augenblicklich beruhigt von dem weichen, bernsteinfarbenen Licht. Ein großer Zimmerwasserfall nahm die Mitte des Büros ein; er war so beherrschend, als wäre das ganze Gebäude um ihn herum errichtet worden. Wasser fiel über nachgebildete Felsen, die bis zur Decke reichten, und rann leise in den Umwälzungsteich in Bodenhöhe. Paul Hessler trat nahe genug heran, um die feine Gischt des Wassers zu spüren. Er stellte sich vor, die Stimme seines Sohnes in dem leisen Rauschen und Plätschern zu vernehmen. Der Wasserfall war ein Geschenk von Ari gewesen – das letzte Geschenk, das der Sohn dem Vater gemacht hatte. Hessler sah Tess Sanderson aus einem Sessel im Sitzbereich aufstehen und zwang sich, die Erinnerungen an seinen Sohn zurückzudrängen.
»Sie sind genau zur richtigen Zeit da, Sanderson«, sagte Paul und gab der jungen Frau die Hand. »Sie haben doch nicht warten müssen?«
»Nein.«
»Sie haben Ihre Unterlagen mitgebracht, wie ich sehe.«
Sandersons Blick glitt zu dem Stapel von Aktenheftern, der auf einem Mahagonitisch zwischen zwei identischen Ledersesseln lag. »Die Berichte über Projekt vier-sechs-null-eins, die Sie gewünscht haben, Sir.«
»Ich möchte sie zusammengefasst hören, mit Ihren eigenen Worten«, bat Paul und setzte sich in den zweiten Sessel, von dem er einen Rundblick auf New York Harbor hatte. »Beginnen Sie mit dieser Studie, die Sie gestern erwähnt haben.«
»Von acht Patienten, die nach Einnahme von vier-sechs-null-eins gesund wurden, hatten vier Krebs, einer AIDS, einer ALS, einer akute Hepatitis und einer Blasenfibrose.«
»Wer davon starb später?«
»Eine der Krebspatientinnen. Aber ihr Tod wird als nebensächlich zu der Studie erachtet.«
»Nebensächlich?«
»Verursacht durch prädisponierte Zustände. Nebenwirkungen der Chemotherapie, die selbst Projekt vier-sechs-null-eins nicht überwinden konnte.«
»Wir haben ihre Krankengeschichten geheim halten können, nehme ich an?«
»Alle Patienten haben sich mit ihren Unterschriften zu Stillschweigen verpflichtet. Ich glaube, einer hat versucht, seine Geschichte an die Boulevardpresse zu verkaufen, aber niemand hat sie gewollt. Man glaubte ihm nicht.«
»Ich kann es selbst kaum glauben. Was ist mit der nächsten Testreihe?«
»Im Augenblick stelle ich die Daten für die Gesundheitsbehörde zusammen. Die Skepsis der FDA macht eine schnelle Zulassung unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.«
»Was hatte Ari in dieser Hinsicht geplant, Sanderson?«
»Nun, Sir, er wollte vorschlagen, dass Sie mit dem Ergebnis der Voruntersuchungen an die Öffentlichkeit gehen, bevor Sie die Zulassung durch die FDA beantragen.«
»Um ihr Druck zu machen.«
Sanderson nickte. »Das war sein Gedanke, ja.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Ansicht teile. Wie lange ist es her, seit diese geheime Studie abgeschlossen wurde?«
»Etwas über einen Monat.«
Hessler dachte über die Information nach. »Nicht lange genug, um die kurzfristige Wirksamkeit von Projekt vier-sechs-null-eins zu ermitteln, geschweige denn die langfristige. Wir sind nicht einmal sicher, ob die wundersame Wirkung anhält, ganz zu schweigen von möglichen Nebenwirkungen.«
»Bis jetzt, Sir, hat es keine nennenswerten Nebenwirkungen gegeben.«
»Bis jetzt. Aber da sehr viel auf dem Spiel steht, müssen wir sicher sein, bevor wir weitermachen.
Weitere Kostenlose Bücher