Die Hüter der Schatten
kannte.
»Ich kann dich nicht nehmen«, wisperte er, »sondern du mußt dich mir schenken, Leslie.« In der Stille, die auf seine Worte folgte, vernahm Leslie von neuem das leise elektrische Knistern, das beinahe Funken zwischen ihren Körpern aufsprühen ließ, und dann das kaum wahrnehmbare Klingen einer unsichtbaren Glocke.
»Die Astralglocke«, sagte Simon leise. »Wir befinden uns in der Gegenwart unsichtbarer Mächte. Was wir jetzt sagen oder tun, geht über uns beide hinaus und gilt für alle Welten.«
Leslie sah, daß die Kerze auf dem Altar flackerte und ihre Flamme bis zur Decke loderte. Eine Art Poltergeist-Phänomen? Simons Penis war jetzt vollständig erigiert, und von neuem hörte Leslie das ferne Läuten der geisterhaften Glocke – das Zeichen dafür, daß sie auf der Schwelle zwischen der gewöhnlichen Welt und einer anderen standen, an der Grenze des Unsichtbaren.
»Ich schenke mich dir«, flüsterte sie. Und als sie ihn in sich aufnahm, hörte sie ihre Worte in einem überweltlichen Schweigen widerhallen.
15
Als Leslie aufwachte, wirbelte der Nebel um Simons Fenster. Ihr war, als befänden sie sich in einer eigenen Welt hoch am Himmel, umgeben von leerem Raum. Leise lachend rückte Simon zu ihr herüber.
»Wir haben Wochenende!« rief er. »Heute brauchst du dich nicht in aller Frühe davonzuschleichen.«
»Nein.« Wohlig reckte sie sich neben ihm. »Aber ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem. Im Haus ist noch so viel zu tun.«
»Das erledigen wir später gemeinsam«, versicherte er ihr. »Du mußt noch viel lernen. Ich weiß nicht, ob du dir im klaren darüber bist, daß jedes Haus, in dem du als PSI-begabter Mensch wohnst, gereinigt und versiegelt werden sollte.«
»Claire hat etwas in der Art erwähnt.«
»Sie muß es ja wissen. Als Alison krank und hilflos war, ist sie ins Haus eingedrungen und hat es gegen mich abgeschottet, in der Hoffnung, mich fernzuhalten. Aber selbstverständlich bin ich stärker als sie. Doch jetzt genug davon! Ich werde dir beibringen, das Gebäude von allen fremden Einflüssen zu reinigen und gegen sämtliche Kräfte zu schützen, die du nicht selbst zum Bleiben aufforderst. Wir werden das Gebäude versiegeln und Schutzzeichen an jeden Eingang setzen.« Simon hatte Leslie aufmerksam beobachtet. »Was hast du, mein Schatz?« fragte er jetzt.
»Tut mir leid, Simon, aber für mich klingt das nach Aberglaube.«
»Verstehe.« Er stützte sich auf den Ellbogen und schaute sie an. »Sprich nur weiter.«
»Daß es so etwas wie Hellsehen gibt, kann ich noch akzeptieren, weil ich es selbst erlebt habe. Das tote Mädchen und ihren Mörder habe ich tatsächlich gesehen – du kennst ja die Geschichte. Ich weiß spontan, was Menschen zugestoßen ist, die ich noch nie gesehen und von denen ich nie zuvor gehört habe. Irgendwie komme ich mir vor wie in Krieg der Sterne … die Macht ist mit uns, etwas Unsichtbares, das auf einer anderen Realitätsebene das gesamte Universum durchdringt …«
»Im Grunde ist das eine ausgezeichnete Umschreibung«, entgegnete Simon. »Wir leben tatsächlich inmitten unbekannter Mächte und Einflüsse. Radiowellen, zum Beispiel, können wir auch nicht sehen, aber wenn wir hier ein Radio stehen hätten und die richtigen Frequenzen einstellten, könnten wir alles mögliche hören … Musik von Brahms, eine Talkshow, in der Verrückte anrufen und erzählen, wie sie in einem UFO zur Venus oder zum Mars geflogen sind, Rockmusik, bei der uns das Trommelfell platzen würde, oder einen Priester, der auf Latein eine Messe liest.« Er schmiegte sich an Leslie. »Aber auch ohne Radio, ohne daß wir es hören, befinden sich all diese Dinge – die lateinische Messe, die ohrenbetäubende Rockmusik, die brabbelnden Verrückten – irgendwo um uns herum. Glaubst du wirklich, daß wir nicht beeinflußt werden, nur weil wir nicht die richtige Frequenz eingestellt haben?«
»Auf diese Weise habe ich das noch nie gesehen.«
»Glaub mir, sie üben eine Wirkung auf uns aus. Wenn du dein geistiges Potential vollständig ausschöpfen könntest, würdest du alles wahrnehmen … von diesem Zimmer bis zu allem, was in der Stadt vor sich geht. Tausende von Menschen, die in die Kirchen strömen und zu ihrem Gott beten. Wenn wir uns in alle diese Gedanken einschalten und ihre Kraft anzapfen könnten, ergäbe das eine unglaubliche Macht! Aber die Menschen wissen nicht, wie sie sich ihrer bedienen können. Sonst könnten die Mächte des Krieges und der
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