Die Hüter der Schatten
berichtete ihm, wie Emily schreiend erwacht war und geglaubt hatte, ihn in ihrem Zimmer zu sehen. »Mir bist du auch einmal erschienen, im Atelier.«
»Ich hoffe, du hast mich freundlich willkommen geheißen«, entgegnete er nüchtern, während er mit seiner narbenbedeckten Hand ihre Brüste streichelte. Er hatte den Handschuh mit der Schiene, welche die beiden äußeren Finger stützte, abgenommen, so daß sie reglos und gekrümmt an seiner Handfläche lagen. »Die Ärzte sagen, ich muß die Finger ständig bewegen, wenn ich sie irgendwann wieder gebrauchen will.« Prompt setzte er sie auf eine ungeahnt erregende Weise ein.
»Damals kannte ich dich nicht«, sagte Leslie. »Und Emily hat sich gefürchtet. Sie wußte ja noch nicht, was für ein Mensch du bist.«
»Ein bißchen Angst kann ihr nicht schaden«, entgegnete Simon gleichmütig. »Jede heftige Emotion stärkt den Willen eines Künstlers … Liebe, Furcht, Schmerz.«
»Wie kaltblütig das klingt, Simon …«
»Natürlich hätte ich Emily nicht absichtlich eingeschüchtert. Anders als Colin oder Claire behaupten, bin ich kein Ungeheuer. Aber nach dem Vorspielen, als ich über die begabten und unbegabten jungen Pianisten urteilen mußte, war ich sehr müde. Außerdem stand ich unter beträchtlichem Streß, denn ich hatte einen Termin bei einem meiner Spezialisten. Wie ich schon sagte, versuchen die Ärzte, die Sehkraft meines linken Auges zu retten, und die Behandlungen sind …« Er zögerte und suchte nach den richtigen Worten. »Sie sind scheußlich schmerzhaft. Ich will dir die Einzelheiten lieber ersparen. Ich nehme nur sehr selten Medikamente. Wenn man sich auf einem so hohen Niveau der Sensibilität befindet wie ich, sind Drogen äußerst gefährlich. Aber an diesem speziellen Abend konnte ich meine gewohnte Kraft nicht aufbringen und habe Chloral genommen.«
Leslie hatte inzwischen mehrere Male die entsetzlichen Krampfanfälle erlebt, bei denen Simon nichts tun konnte, als angespannt, von Schmerzen geschüttelt und wie gelähmt zu verharren und darauf zu warten, daß die Attacke endete.
»Ich halte es für möglich, daß ich während dieser Zeit, als mein bewußtes Ich ausgeschaltet war, instinktiv einen Ort aufgesucht habe, an dem ich einmal jung war – und gesund. Wenn du so willst, ist mein Geist in das Zimmer geflohen, das ich als Kind und als junger Mann bewohnt habe, wenn ich nach San Francisco kam. Alison war eine Freundin meiner Mutter. Deshalb war dieses Haus viele Jahre lang mein zweites Heim. Und auch danach … Magie schafft Verbindungen, die stärker sind als die zwischen Blutsverwandten.«
Leslie dachte an das Ritual, das sie an Simon band. Sie glaubte ihm.
Simon seufzte und fuhr fort: »Colin und ich waren mal gute Freunde, und ich schätze ihn und Claire immer noch. Ich weiß nicht genau, warum die beiden mir ihre Freundschaft entzogen haben. An mir lag es jedenfalls nicht.«
Er verstummte, wurde so still wie der Nebel, der vor dem Fenster waberte. Leslie überlegte. Nein, sagte sie sich, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, ihm zu sagen, was Claire über Schwarze Magie geäußert hat. Leslie selbst glaubte ohnehin nicht an so etwas; und noch weniger konnte sie sich vorstellen, daß Simon sich dem Bösen verschrieben hatte. Wie konnten Claire und Colin es überhaupt wagen, Simon seiner Entschlossenheit wegen zu verurteilen? Dafür, daß er seinen Willen einsetzte, um den unbekannten Mächten, an die er glaubte, seine Heilung zu entringen? Leslie zweifelte nicht mehr daran, daß so etwas möglich war.
Simon streckte die Hand nach ihr aus. »Aber jetzt«, flüsterte er, »bin ich nicht mehr allein. Was ich am meisten entbehrt habe, war ein Partner, ein anderer Magier, Leslie. Wirst du mit mir zusammenarbeiten? Willst du deine Kräfte mit den meinen vereinen, um mich zu heilen?«
Warum fielen Leslie in diesem Moment Colins Worte ein? Wenn ich könnte, würde ich dir meine Hände schenken. Sie wußte, das traf auch auf sie zu. Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte sie ihre Hand gegen die Simons getauscht. Das war die wahre Bedeutung von Liebe.
»Ich weiß nichts über diese Dinge, Simon. Aber in den letzten Tagen ist so vieles geschehen, daß ich fast nichts mehr für unmöglich halte. Du weißt, daß ich mehr als glücklich wäre, wenn ich dir irgendwie helfen könnte.«
Simon zog sie auf sich und küßte sie ungestüm. Wieder zeichnete er mit den Händen das eigenartige Symbol auf ihren Körper, das sie inzwischen
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