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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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von diesen Experimenten ab und beschäftigte mich damit erst wieder …« Simon zögerte und holte tief Luft. »Nach meinem Unfall.«
    Er legte die Hand auf den Tisch, ließ den Übungsball davonrollen und zog den Handschuh mit der Schiene aus. Dann nahm er die Brille ab. Er wandte sein narbenbedecktes Gesicht mit dem verunstalteten Auge ins Licht, und Leslie war einmal mehr schockiert. Sie hatte bisher nicht bemerkt, daß eine Hälfte seines Handrückens das typische Kalkweiß transplantierter Haut aufwies.
    »Sieh mich an, Leslie. Schau mich richtig an.«
    »Simon …«, flüsterte sie.
    »Du betrachtest mich mit den Augen der Liebe«, erklärte er und lehnte sich über den Tisch, um sie zu liebkosen, »aber ich sehe mich so, wie ich wirklich bin. Bühnenidol und Filmstar – und dann das hier!« Seine Stimme klang so bitter, daß Leslie vor Schmerz zusammenzuckte.
    »Die Mediziner haben mir vorausgesagt, ich würde die Sehfähigkeit des linken Auges einbüßen – vollständig«, begann er bedächtig, »und es gebe keine Möglichkeit, sie zu retten. Außerdem bestehe die Möglichkeit, daß ich im linken kleinen Finger, der am obersten Knöchel vollständig abgetrennt und wieder angenäht wurde« – er streckte ihn aus, und Leslie sah die Narbe und die Stiche –, »trotz kompliziertester Mikrochirurgie nie wieder Tastsinn entwickeln oder den Finger normal würde bewegen können. Es könnte sogar passieren, daß die Fingerspitze nicht anwachsen und wieder abfallen würde. Was die Augenverletzungen anging, meinten die Ärzte, daß ich angesichts der Schwere wahrscheinlich auch die Sehkraft auf dem rechten Auge verlieren würde. Sie haben mir empfohlen, die Braille-Schrift zu erlernen und mich darauf einzurichten, vollständig zu erblinden! Mehr hatte die medizinische Wissenschaft mir nicht zu sagen, Leslie.«
    »Aber die Ärzte haben sich geirrt«, flüsterte sie.
    »Nein, sie hatten recht«, erwiderte er unerbittlich. »An diesem Punkt sagte ich mir, daß für den ausgebildeten Willen nichts unmöglich ist. Ich hatte die Magie studiert – ich wollte mehr als bloß Gebete, mehr als nur demütig mein Karma annehmen, wie die Tradition es lehrt! Deshalb habe ich Alisons Katze geopfert …« Simon holte tief Luft. »Damals – am selben Tag noch, Leslie – sah ich, wie die Spitze meines kleinen Fingers sich rosig färbte, und ich wußte, das Blut zirkuliert wieder. Das hatte die Macht bewirkt, die ich beschworen hatte. Ich ließ mein Auge noch einmal untersuchen, und die Ärzte sagten mir, das rechte Auge würde überleben, und möglicherweise würde ich sogar die Sehkraft des linken zurückgewinnen. Zumindest so weit, daß ich Hell und Dunkel würde unterscheiden können. Willst du mich dafür verurteilen? Glaubst du wirklich, Alison würde das Leben einer Katze höher bewerten als meine Heilung, Leslie?«
    Er glaubt das wirklich. Aber woher will er wissen, daß sein Zustand sich sonst nicht auch gebessert hätte? Doch seine Stimme wühlte Leslie so sehr auf, daß sie nur rufen konnte: »Aber nein, Simon! Wie könnte jemand, der dich liebt …«
    »Colin hat es getan«, versetzte Simon erbittert. »Er und Claire glauben, daß ich der Verdammnis anheimfallen werde, und wenn sie das andere wüßten …« Mit seiner gesunden Hand umklammerte er die ihre.
    »Leslie, kannst du mir noch vertrauen, wenn du das Schlimmste erfährst? Wenn ich dir sage, daß das Opfer der Katze nicht genügt hat? Daß ich dort nicht haltgemacht habe?«
    »Du meinst doch nicht … ein Menschenopfer?«
    »Ich wußte, daß du entsetzt reagierst«, entgegnete er heftig. »Aber das Leben einer Katze kann mehr wert sein als das mancher Menschen! Denk an diesen Mörder, der vier junge Mädchen umgebracht hat und bei dessen Ergreifung du in Sacramento mitgewirkt hast. Man wird ihn hinrichten – und das ist nichts anderes als ein Menschenopfer an eine abstrakte Idee namens Gesetz und Ordnung. Und lieber würde ich Alisons weiße Katze mit allen Schätzen dieser Welt überhäufen, als zuzulassen, daß dieses schwachsinnige Kind, das ich heute bei dir im Garten gesehen habe, weiterhin die Kraft und die Emotionen seiner Eltern auslaugt!«
    Leslie hatte solche Ansichten schon häufig gehört. Sie selbst hielt nichts davon, wußte aber, daß viele Menschen leidenschaftlich solche Überzeugungen vertraten. Sie konnte es Simon kaum übelnehmen. Woher wußte sie denn, ob ihr eigener Widerstand gegen diese Vorstellung nicht bloß auf Sentimentalität beruhte?

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