Die Hüter der Schatten
O Gott, ich dachte schon, ich hätte es mir eingebildet. Sie hat ›Kätzchen‹ gesagt, oder? Sie kann sprechen. Aber warum tut sie es nicht?«
Der Spracherwerb findet entweder nicht statt, oder die Fähigkeit geht wieder verloren. Das war die klassische Definition von Autismus. Doch Christina war nicht autistisch, jedenfalls nicht auf die typische Weise. Aber warum redete sie nicht? Leslie hatte keine Erklärung.
Sie wollte den Schlosser bezahlen, aber der schüttelte den Kopf. »Ihr Mann sagte, er will sich hier mit mir treffen. Ah, ich glaub’, da kommt er gerade.« Leslie hob den Kopf und sah, daß Simon den Gartenweg herunterkam. »Der Schlosser ist hier, Liebling«, sagte sie ihm lächelnd. »Ich habe eine Patientin, aber in einer Stunde bin ich bei dir.«
Zärtlich erwiderte Simon ihr Lächeln. Da Chrissy mitten auf dem mit Ziegeln belegten Weg stand, trat er zur Seite, um sie nicht umzustoßen. Das Mädchen hob den Kopf und stieß einen Schrei aus. Sie stolperte rückwärts, kreischte noch einmal und flüchtete in die entfernteste Ecke des Gartens.
Rasch lief Susan ihr nach.
»Vielleicht hat eine Biene sie gestochen! Ich habe zwar nichts gesehen, aber … Chrissy, Chrissy, was ist denn?« Susan beugte sich über ihre Tochter, die immer noch schreiend unter den Rizinusbüschen stand. Sie untersuchte die Hände des Mädchens, die Arme, die bloßen, zerschrammten Knie und schaute in das verzerrte Gesicht. Als Susan sie berührte, wurde die Kleine ruhig.
»Nichts zu sehen«, erklärte Susan und trat wieder zu Leslie und Simon.
»Ich glaube, Ihre Tochter mag mich nicht, Mrs. Hamilton«, meinte Simon. Er griff in die Jackentasche. »Hier, vielleicht wird das die Kleine beruhigen.« Er zog einen in Goldfolie gewickelten Schokoladenriegel hervor und reichte Susan die Süßigkeit.
»Das ist Dr. Anstey, Susan. Mein Verlobter.«
Susan blickte hilflos zu dem größeren Mann auf. »Chrissy meint das nicht böse, Dr. Anstey. Sie … sie kann nicht sprechen, und wir wissen nicht, wieviel sie von dem versteht, was wir sagen …«
Simon zuckte die Achseln. »Das dachte ich mir schon. Es tut mir leid, daß ich der Kleinen einen Schrecken eingejagt habe. Ich hoffe, sie nimmt die Schokolade als Entschuldigung an.« Er nickte Susan höflich zu und ging, um mit dem Schlosser zu sprechen.
»Sieh mal, Chrissy, Schokolade. Möchtest du was Süßes?« Susan wickelte den Riegel aus und hielt ihn dem Mädchen hin. Chrissy ließ zu, daß ihre Mutter ihr die Süßigkeit in die Hand legte; dann aber warf sie die Schokolade zu Boden, stampfte darauf herum und lief davon, kniete sich hin und begann mit einem Stein zu spielen.
Vielleicht kann sie Gedanken lesen. Dann weiß sie möglicherweise, daß Simon gesagt hat, es sei das beste, sie wäre tot. Leslie hatte noch nie gesehen, daß Chrissy zielbewußt handelte; aber jetzt begriff sie, warum Susan glaubte, daß irgendwo, tief verborgen, Intelligenz in ihrem Kind schlummerte.
»Wenn Sie meinen, daß Chrissy jetzt allein zurechtkommt, könnten wir ins Haus gehen und beginnen, Susan.«
»Ja, das wird schon gehen.« Beim Hineingehen warf Susan noch einmal einen besorgten Blick auf Christina.
»Ich hätte es schlimmer treffen können«, sagte sie dann mit aufgesetzter Munterkeit. »Über Chrissys Schule habe ich die Mutter eines geistig zurückgebliebenen Mädchens kennengelernt. Geistig steht das Kind auf der Stufe einer Fünfjährigen, sieht aber aus wie siebzehn oder achtzehn. Helen hat Angst, ihre Tochter auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, denn sie würde mit jedem mitgehen. Zumindest brauche ich mir keine Sorgen zu machen, Chrissy könnte Süßigkeiten von fremden Männern annehmen.«
Als Susan gegangen war, trat Leslie in die Küche, wo sie Emily beim Einpacken von Sandwiches antraf. Auf der Anrichte lagen Eierschalen, abgezogene Selleriefäden und ein leeres Glas Mayonnaise. Simon hatte sich im Atelier aufgehalten und kam ins Zimmer geschlendert. »Das riecht gut, Emily. Gefüllte Eier zum Abendessen?«
»Ich habe dir und Leslie ein paar in den Kühlschrank gestellt«, erklärte Emily, während sie mit der Frischhaltefolie hantierte. »Frodo und ich wollen in den Muir Woods unter den Mammutbäumen picknicken. Wir haben einen Freund von ihm eingeladen, der mittelalterliche Instrumente baut. Die beiden wollen über den Laden sprechen. Er kennt ein Ladenlokal in Berkeley, das vielleicht zu vermieten ist.«
»Klingt interessant«, meinte Simon. »Falls Paul
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