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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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soll aus mir werden, wenn ich an dem einzigen Beruf zweifle, für den ich ausgebildet bin? Ich kann es mir nicht leisten, diesen Job aufzugeben und etwas anderes anzufangen, nur weil ich den Glauben verloren habe, als Psychologin etwas ausrichten zu können.
    Das Telefon klingelte. Leslie hob ab, wobei sie gegen alle Wahrscheinlichkeit hoffte, daß ihr ein realer Anrufer oder schlimmstenfalls Schweigen antworten würde. Alles war besser als das dumpfe, schwere Atmen oder die gemurmelten Worte ihres anonymen Quälgeistes.
    Nichts. Nur nervenzerfetzende Stille, die Leslies Phantasie mit reißerischen Zeitungsberichten über Massenmörder bevölkerte. Nein, schalt sie sich und knallte den Hörer auf die Gabel, das ist nur deine eigene Phantasie.
    »Meine Güte, dieses feuchte Wetter«, bemerkte Emily die hinter Leslie in die Diele getreten war. »Vielleicht funktioniert das Leitungsnetz in San Francisco besser, und die Telefone spinnen nicht ständig. Weißt du was, Les?«
    »Was?«
    »Ich muß in drei Tagen vorspielen. Es geht um einen Auftritt mit dem San Francisco Orchestra. Das Klavierkonzert Nummer zwei von Rachmaninow …«
    »Kenne ich das Stück?«
    Emily summte ein paar Takte, die Leslie sofort bekannt vorkamen. »Ist das nicht von Tschaikowsky?«
    »Nur wenn die Leute einen falschen Namen auf die Partitur gedruckt haben«, gab Emily zurück. »Nein, nein, das ist von Rachmaninow. Als heute morgen der Termin herauskam, hat Tante Whitty mir eine regelrechte Vorlesung gehalten. Seiner Meinung nach hätte man ein Konzert von Mozart wählen sollen. Oder am besten etwas von Scarlatti«, stöhnte sie. »Mir soll’s egal sein. Ich mag die Romantiker. Also bin ich gleich losgezogen und habe mir die Partitur gekauft – das heißt, den Klavierauszug natürlich. Schön, daß dir die Musik gefällt, denn du wirst sie in den nächsten Tagen oft zu hören bekommen. Ich habe dieses Konzert schon gespielt, aber noch nie richtig studiert …«
    »Sind viele Studenten zum Vorspielen bestellt?« fragte Leslie.
    »Acht oder zehn, glaube ich. Simon Anstey wird in der Jury sitzen, du weißt schon, der brillante Pianist, der bei einem Unfall zwei oder drei Finger verloren hat. Ich habe gehört, daß er von weiblichen Pianisten nicht viel hält. Es wird also ein ziemlich harter Wettbewerb Für mich.« Emily schlenderte in Richtung Musikzimmer davon.
    Leslie folgte ihr. »Ich habe heute noch einmal den Makler aufgesucht. Wir können jederzeit einziehen. Der Mietvertrag hier läuft zwar erst Ende des Monats aus, aber was hältst du davon, nächste Woche umzuziehen?«
    »Hm?« Emily hatte sich bereits in ihre Noten vergraben. Leslie wiederholte ihre Frage. »Meinetwegen, aber laß den Flügel erst nach dem Vorspieltermin abholen, ja?« erwiderte Emily zerstreut und setzte sich ans Klavier. Leslie sah, daß sie sich bereits in ihre magische Welt zurückgezogen hatte, in der sie alle Sorgen und Nöte vergessen konnte.
    Ich wünschte, ich könnte mich meinen Schwierigkeiten auch so einfach entziehen, ging es Leslie durch den Kopf; dann aber ermahnte sie sich, fair zu bleiben. Emily hatte andere und vielleicht schlimmere Sorgen: Vorspieltermine, die scharfe Konkurrenz unter Konzertpianisten und Jurymitglieder, die Vorurteile gegen Frauen hegten. Einen Moment verharrte sie an der Tür und lauschte, wie Emily die ersten getragenen Takte des Adagio anschlug.
    Zu dieser Melodie gab es einen alten Schlager – Mom behauptete, er stamme aus den Vierzigern. »Vollmondnacht, doch niemand liegt in meinen Armen.« Vielleicht ist das mein Problem. Bei Eileen hat eine neue Liebe Wunder bewirkt. Ich sollte Joel anrufen.
    Eine Zeitlang stand Leslie da und lauschte den schwermütigen, melancholischen Klängen. Von neuem klingelte das Telefon.
    »Für mich?« rief Emily.
    Leslie knallte den Hörer auf die Gabel.
    »Nein«, rief sie zurück. »Nur unser freundlicher Nachbar, der Poltergeist.«
    »Ich finde das langsam nicht mehr witzig«, schimpfte Emily.
    »Da hast du verdammt recht«, erwiderte Leslie. Doch Emily hatte bereits wieder das Interesse verloren, und Rachmaninows Klänge erfüllten das ganze Haus.
    Das Telefon schrillte noch sechsmal und zerrte an Leslies Nerven, bis sie schließlich aufgab und den Hörer neben den Apparat legte. Es war sowieso nie jemand in der Leitung. Aber das war immer noch besser als ein bedrohliches Keuchen am anderen Ende. Wenigstens konnte auch Leslie dann das ständige Klingeln auf das feuchte Wetter oder einen

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