Die Hüter der Schatten
Monate.«
»Soviel Zeit haben wir nur bis zum Konzert mit dem Sinfonieorchester im September. Aber einige von uns sollen am Montag vor den Klavierprofessoren spielen, um festzustellen, wer überhaupt zum Vorspielen antreten darf. Und Agrowsky hat mir erst heute morgen gesagt, daß ich mitmachen darf. Verdammter alter Sadist!« Emily stand auf und ging zur Küchentheke. »Krieg’ ich noch ein Sandwich?«
»Natürlich. Soll ich es dir machen?«
»Das kann ich schon selbst. Bleib nur sitzen.« Emily bestrich ihr Biobrot dick mit Mayonnaise, belegte es großzügig mit Käse und spähte neugierig in den Kühlschrank. Leslie erschauerte, als eine Handvoll Keime und Sprossen auf dem Käse landete. »Lecker, Schinken!« rief Emily. Sie legte zwei Scheiben auf die Sprossen, bestrich das Brot auf beiden Seiten mit Butter und steckte es in den Grill.
»Für dich auch, Les?«
»Danke, nein, ich bin satt.« Leslie wußte, daß der Appetit eines Teenagers ein Faß ohne Boden war. Im Grill begann das Riesensandwich zu brutzeln. »Ich dachte, du bist Vegetarierin?« Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.
»Bin ich ja auch.« Emily wirkte leicht verlegen. »Aber manchmal habe ich diese … Gier. Ich glaube, dann will mein Körper mir mitteilen, daß ich eine Ausnahme machen darf.« Sie öffnete den Grill, betrachtete zufrieden die braune, buttertriefende Kruste, nahm das Sandwich heraus und balancierte es auf ihren Teller. »Hör mal, Les, wenn ich mich für Ansteys Meisterklasse einschreiben darf, wird das ungefähr dreihundert Dollar extra kosten.«
»Das Geld gehört dir, Em. Wenn du die Stunden nehmen willst, hebe ich die Summe für dich ab.« Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie den Namen Simon Anstey schon einmal gehört hatte. Nach einer Weile fragte sie Emily danach.
»Anstey ist eine Institution. Er hat mit sechzehn seinen ersten hochdotierten Preis gewonnen und ist seitdem überall auf der Welt aufgetreten. Schon als Kind hatte ich ein paar Platten von ihm. Anstey hat auch zwei oder drei Filme gedreht – damals muß er ziemlich gut ausgesehen haben, wenn auch irgendwie auf diese gelackte Art wie in den Fünfzigern. Er wirkt ziemlich … elegant. Aber sogar damals war er schon schrecklich alt, dreißig oder sogar fünfunddreißig«, fügte Emily hinzu, den Mund voll Käse und Schinken. Leslie lief es kalt den Rücken herunter, als sie hörte, wo ihre Schwester die Grenze zum Greisenalter ansetzte.
»Dann hatte Anstey diesen schrecklichen Unfall, Les. Es stand alles in der Zeitung. Er hat ein paar Finger verloren, und sein Gesicht war völlig zerfetzt. Dann lag er ewige Zeiten im Krankenhaus. Er hat nie wieder öffentlich gespielt. Inzwischen unterrichtet er in der ganzen Welt und gibt seine Meisterklassen. Soviel ich weiß, dirigiert er auch. Und jetzt hat Agrowsky eben gesagt, wenn ich Montag gut spiele, würde er mich für Ansteys Meisterklasse vorschlagen.« Leslies kleine Schwester kicherte. »Anstey soll das Grauen auf Erden sein – neben ihm nimmt Agrowsky sich angeblich wie der Weihnachtsmann aus.« Sie verzog das Gesicht und tätschelte die blauen Flecken an ihrem Handgelenk.
»Dann ist Anstey behindert?«
»Wie gesagt, er hat ein paar Finger verloren, und ich glaube, er ist auf einem Auge blind. Aber seine Meisterklassen sind immer gerammelt voll.«
Leslie war sich sicher, den Namen Simon Anstey schon in einem anderen Zusammenhang gehört zu haben. Eine vage Erinnerung ließ ihr keine Ruhe. Nun ja, wahrscheinlich fiel es ihr irgendwann noch ein.
»Kommt Joel noch vorbei, Les?«
»Er wollte, aber ich habe ihm gesagt, daß du übst. Außerdem muß ich packen, damit ich morgen früh als erstes die Umzugsfirma anrufen kann.«
»Vergiß nicht, Mom anzurufen und ihr Bescheid zu geben«, mahnte Emily sie. »Les, wir haben doch jetzt ein Zimmer mehr. Sollten wir Mom nicht zu uns holen? In Sacramento ist sie ganz allein, und ich mache mir große Sorgen um sie. Wenn sie stürzt und sich das Hüftgelenk bricht oder so was … Ich habe wirklich Schuldgefühle, weil ich nicht zu Hause geblieben und in Sacramento aufs College gegangen bin. Aber ich habe einfach nicht den richtigen Musiklehrer gefunden …«
»Das hätte niemand von dir erwartet, auch Mom nicht«, beruhigte Leslie sie, weil ihre Schwester genau diese Worte brauchte. Aber selbst als ihr Vater noch lebte, war Leslie klar gewesen, daß ihre Mutter lieber zwei ganz normale, brave Töchter gehabt hätte, die in der Stadt blieben und dort
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