Die Hüter der Schatten
durchbohrtes Herz. Verwirrt wandte Leslie den Blick ab. Sie fühlte sich krank und zu schwach, um sich zu bewegen. In trägen Spiralen trieb der grünliche Nebel dahin.
Sie lag da wie gelähmt. Der Nebel züngelte an ihrer Kehle. Sie vermochte sich nicht zu rühren … Man hatte sie gefesselt! Sie versuchte sich loszureißen, aufzuschreien und spürte einen scharfen Schmerz an den Hand- und Fußgelenken, als die Stricke ihr ins Fleisch schnitten. In ihrem ausgedörrten Mund steckte ein Knebel. Ober ihr schwebte eine monströse, gesichtslose, düstere Gestalt und kam näher und näher. Leslie kämpfte gegen ihre Fesseln, wand sich in ohnmächtigem Entsetzen … Dieser Schmerz …
Dann war sie mit einem Mal hellwach. Sie lag gemütlich im Bett in ihrem eigenen Schlafzimmer und wußte, daß alles nur ein Alptraum gewesen war. In ihrem Büro klingelte das Telefon; der zweite Apparat, den sie auf Auftragsdienst gestellt hatte. Eigentlich hätte sie jetzt nach unten gehen und abheben müssen. Wenn es nachts klingelte, konnte der Anrufer ein verzweifelter Patient sein, der einen Selbstmordversuch unternehmen wollte oder einen Alptraum durchlebt hatte wie der, von dem Leslie vorhin heimgesucht worden war. Sie fühlte immer noch die Übelkeit, die sie ergriffen hatte, als dieses Ding über ihr schwebte. Wieder schrillte das Telefon. Ohne Hausschuhe und Bademantel rannte Leslie die Treppe hinunter, aber jetzt schwieg der Apparat. Im Dunkeln wählte sie die vertraute Nummer.
»Hier Leslie Barnes. Haben Sie eben versucht, mich zu erreichen?«
Eine überraschte, gelangweilte Stimme antwortete.
»Aber nein, Dr. Barnes. Für Sie sind keine Anrufe eingegangen.«
Natürlich nicht. Wollte dieses nächtliche Grauen denn überhaupt kein Ende nehmen? Leslie warf einen Blick auf die Uhr und sah, daß es erst halb fünf war; aber wahrscheinlich könnte sie ohnehin nicht mehr schlafen. Sie knipste das Licht an und stahl sich leise nach oben, um Bademantel und Hausschuhe zu holen. Dann suchte sie sich einen bequemen Sessel in ihrem Büro, setzte sich hinein und las bis zum Morgengrauen in der trockensten Fachzeitschrift, die sie finden konnte.
6
Leslie stellte den Scheck aus. Der Makler warf einen Blick darauf und steckte ihn in seine Aktenmappe. Dann stand er auf und schüttelte ihr die Hand.
»Ich glaube, da haben Sie wirklich ein hübsches Haus erworben. Die Hinterlegung der Besitzurkunde und die Grundbucheintragung sind nur noch eine Formalität. Juristisch gesehen können Sie noch drei Tage Ihre Meinung ändern – diese Frist ist uns bei der Veräußerung einer Immobilie gesetzlich vorgeschrieben. Aber eigentlich spricht nichts dagegen, daß Sie sofort einziehen. Melden Sie sich gegen Ende der Woche bei mir, um sicherzugehen, daß keine juristischen Spitzfindigkeiten dazwischengekommen sind. Dann können Sie den Möbelwagen bestellen.«
Leslie nickte. Je eher der Umzug stattfand, um so besser. Die letzten drei Nächte waren grauenhaft gewesen. Pausenlos hatten Telefon und Türklingel geschrillt. Emily hatte darauf bestanden, zur Polizei zu gehen. Also hatte Leslie einem höflichen, aber skeptischen Beamten ihre Geschichte erzählt. Er hatte die Anzeige aufgenommen und Leslie angewiesen, den Mann am anderen Ende in ein möglichst langes Gespräch zu verwickeln, damit man den Anruf zurückverfolgen könne. Aber wie soll man das anstellen, wenn nie jemand in der Leitung ist? Ein weiterer argwöhnischer Mensch von der Telefongesellschaft hatte jeden ihrer Apparate überprüft und behauptet, sie seien vollständig in Ordnung. Vielleicht sei es während der langen Regenperiode durch die Feuchtigkeit zu einem Kurzschluß oder einem sonstigen Defekt in den Relais gekommen, meinte er. Dagegen war natürlich nichts zu machen. Leslie hatte schon überlegt, das Telefon ganz abklemmen zu lassen.
Aber damit wäre ich die Türklingel noch nicht los. Und wie soll ich das meinen Patienten erklären?
Sie hatte die öffentliche Bibliothek in Berkeley aufgesucht. Als ihre Recherchen nichts Interessantes über Poltergeister oder übersinnliche Phänomene zu Tage förderten, war sie in die dortige Universitätsbibliothek gegangen. Dort hatte sie sich pflichtbewußt in die Arbeiten von Nandor Fodor und J.B. Rhine vertieft. Ersterer hatte nur zu bieten, was Leslie inzwischen ebenfalls als »psychoanalytisches Gewäsch« bezeichnete, und Rhine lieferte lediglich eine große Anzahl von Statistiken, was das Erraten von Karten anging, die mit
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