Die Hüter der Schatten
verbannen wäre falsch gewesen. Ihren Patienten riet Leslie stets, unter großem Streß keine lebenswichtigen Entscheidungen zu treffen.
Im Moment lerne ich mich anscheinend ganz neu kennen. Wenn ich nicht einmal weiß, ob ich den richtigen Beruf ausübe, wie soll ich dann entscheiden, ob ich einen Mann wie Joel heiraten will oder nicht?
»Ich würde dich ja gern zu unseren Käsebroten einladen, aber hast du wirklich Lust, den ganzen Abend zuzuhören, wie Emily Rachmaninow übt?«
»Können wir das Mädel nicht einfach ins Kino schicken?«
»Das könnte klappen, wenn sie noch fünfzehn wäre. Nein, Emily ist ganz aus dem Häuschen, weil sie Montag vorspielen muß. Es geht um einen Auftritt mit dem Sinfonieorchester von San Francisco.«
»Den kriegt sie – oder noch etwas Besseres«, meinte Joel. »Das Mädchen hat wirklich Talent. Andererseits muß ich gestehen, daß es nicht gerade meiner Vorstellung von einem gelungenen Abend entspricht, in der Küche zu hocken und Rachmaninow zu hören. Außerdem schulde ich dir vom letztenmal noch eine Feier. Wie wär’s mit Freitag abend?«
»Das wäre herrlich«, erklärte sie nachdrücklich.
»Erzähl mir von dem neuen Haus«, forderte Joel sie großzügig auf, und sie unterhielten sich noch zwanzig Minuten. Zum Schluß kam er noch einmal auf ihre Verabredung zurück.
»Dann bis morgen abend. Mach dich schick. Ich lade dich ins Claremont ein. Ich hab’ dich sehr gern, Les.«
»Ich dich auch«, antwortete sie zärtlich und legte auf. Vielleicht war ja alles doch nicht so schlimm. Bald würde sie aus diesem Haus ausziehen und pausenlos schrillende Telefone, unsichtbare Besucher an der Tür, umstürzende Körbe und fliegende Aschenbecher hinter sich lassen. Unter der neuen Telefonnummer würde der anonyme Anrufer sie nicht wiederfinden.
Leslie steckte die Sandwiches in den Grill und rief Emily zum Essen. Den Blick auf die Partitur geheftet, kam ihre Schwester aus dem Wohnzimmer, setzte sich an den Tisch und lud sich mit einer Hand Salat auf den Teller.
»Sei vorsichtig, Em. Du möchtest Rachmaninow doch nicht mit Mayonnaise beschmieren, hm?«
Zögernd legte Emily die Partitur auf die Küchenanrichte und stürzte sich auf ihren Salat. Leslie nahm die Käsesandwiches aus dem Grill.
»Danke für das schöne Abendessen, Les. Ich hätte dir helfen sollen …«
»Ach was. Du hast schließlich deinen Vorspieltermin.«
»Habe ich vorhin nicht das Telefon gehört?« fragte Emily mit vollem Mund.
Natürlich. So etwas bemerkte Emily sogar, wenn sie auf einer Wolke aus Rachmaninow-Musik schwebte. »Es hat ein halbes Dutzend Mal geklingelt, bis ich eine Zeitlang den Hörer neben den Apparat gelegt habe. Und dann hat Joel angerufen.«
»Ach.« Kurze Pause; dann: »Ich dachte, ihr hättet Schluß gemacht. Also geht ihr jetzt wieder zusammen?«
»Er hat angerufen, um sich zu entschuldigen«, erklärte Leslie steif. Ihr Blick fiel auf das Handgelenk ihrer Schwester. Das schmale, feinknochige Gelenk schien von einem Kranz dunkler Punkte umgeben.
»Was hast du denn da angestellt?«
Nervös zupfte Emily am Ärmel ihres dunklen Pullovers.
»Agrowsky hat mir die Hand umgedreht«, gestand sie.
»Er hat …« Leslie stockte fassungslos. »Kommt so etwas am Konservatorium häufiger vor?«
»Eigentlich nicht. Er hat das auch nicht mit Absicht getan, weißt du. Er hat gesagt, ich hielte die Hand falsch, und hat mich ziemlich fest am Gelenk gepackt.« Emily zog den Ärmel über die blauen Flecken. »Mach bloß keinen Wirbel.«
Leslie war empört. Andererseits war Emily keine elf mehr und brauchte ihren Schutz nicht. Es lag bei ihr selbst, ob sie wegen dieser Sache Wirbel machte oder nicht.
Als Leslie den Blick nicht vom Arm ihrer Schwester nahm, wurde Emily nervös. »Agrowsky nimmt nicht viele Schüler an. Ich bin eine der wenigen Glücklichen, und da will ich mich auf keinen Fall zu weit aus dem Fenster hängen.«
»Glücklich« ist wohl nicht der treffende Begriff, wenn man einen Klavierlehrer hat, zu dessen Unterrichtsmethoden es gehört, seinen Schülern die Hand umzudrehen, dachte Leslie. Aber sie hielt den Mund. Sie wußte, daß Boris Agrowsky als Musiker Weltruf genoß.
»Er war Simon Ansteys Lehrer«, fuhr Emily fort, »und er sagt, wenn ich am Montag gut spiele, bringt er mich diesen Sommer in Ansteys Meisterklasse unter.«
»Ist dieser Vorspieltermin nicht sehr kurzfristig? Ich finde, man müßte euch mehr Zeit zur Vorbereitung geben. Wochen, vielleicht sogar
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