Die Hüter der Schatten
gemurmelt. Kein Grund, Emily noch mehr Angst einzujagen, sagte sie sich. Der Anrufer hegte offenbar einen echten oder eingebildeten Groll gegen sie persönlich oder die ganze Welt. Wahrscheinlich war er selbst eher ein Opfer als ein Täter – einer von Hunderttausenden, denen die Gesellschaft so übel mitgespielt hatte, daß kein vernünftiger Mensch sie für ihre Handlungen zur Verantwortung ziehen konnte. Aber wer immer der Mann war – Leslie wünschte, er würde seinen Zorn an den wirklich Schuldigen auslassen.
Sie rief sich ins Gedächtnis, daß anonyme Anrufer nicht zu Gewalttaten neigten; sie waren ein ängstlicher Menschenschlag, der Konfrontationen fürchtete. Und wie konnte sie nach ihren Poltergeist-Erfahrungen andere Menschen ihrer unbewußten Aggressionen wegen verurteilen?
»Vergiß es, Em. Ist ja nichts passiert. Laß uns schlafen gehen.«
Emily knipste das Licht in der Küche aus und folgte Leslie. Sie waren die Treppe halb hinaufgestiegen, als die Türklingel ging. In der nächtlichen Stille klang der Summer erschreckend laut.
Um diese Uhrzeit? Das muß etwas Wichtiges sein. Die Polizei vielleicht. Ein Unfall …
Leslie rannte die Treppe hinunter und spähte durch die Glasscheibe. Die Veranda war verlassen. Emily war ihr gefolgt.
»Wer ist da, Les?«
»Niemand, wie es aussieht.«
»Aber irgend jemand muß doch den Klingelknopf gedrückt haben!« protestierte Emily. »Es sei denn, deine blöden Poltergeister schellen ebenfalls. Können sie das?«
Ein Gefühl, das Zorn und Angst zugleich war, schnürte Leslie die Kehle zu. Bin ich das etwa selbst? Tue ich mir – und Emily – das an? »Ich glaube eher, daß irgendwelche Jugendlichen uns einen Streich gespielt haben. Allerdings keinen besonders witzigen.« Sie löschte das Licht und ging nach oben. Emily folgte ihr dichtauf. Leslies kleine Schwester wirkte eingeschüchtert, was ihr gar nicht ähnlich sah.
»Und wenn da draußen wirklich jemand steht, Les? Ich meine, man weiß doch, wie es in der Großstadt zugeht. Die Leute klingeln an deiner Tür, und wenn du aufmachst, überfallen sie dich. Straßenräuber, Vergewaltiger …«
»Da ich die Tür nicht geöffnet habe, dürfte es den Verbrechern schwerfallen, uns auszurauben oder Gewalt anzutun«, entgegnete Leslie begütigend. »Und ich habe nicht die Absicht, vor die Tür zu gehen, außer ich erkenne die Person, die draußen steht. Keine Bange, Emily. Das ist nur so ein Spinner …«
»Keine Bange? Weißt du eigentlich, wie blaß du warst, als du mit dem Nudelholz in der Hand dagestanden hast? Zuerst der anonyme Anrufer, und dann klingelt es, und niemand ist an der Tür. Falls jemand das mit Absicht tut – warum ?«
Leslie war ins Grübeln gekommen. Telefonterror? Oder meine eigenen unbewußten Haßgefühle, die sich durch Poltergeist-Aktivität äußern? Vielleicht sollte ich mich an einen Fachmann wenden. Aber an wen? Die meisten Therapeuten würden sich entweder vor Lachen ausschütten oder vermuten, daß ich paranoid bin und jeden Bezug zur Realität verloren habe.
Wieder klingelte des Telefon. Emily stieß eine unflätige Beschimpfung aus, hob ab und legte gleich darauf resigniert seufzend auf.
»Der Typ schon wieder«, erklärte sie. »Idiot. Ich leg’ den Hörer neben den Apparat, Leslie, sonst kriegen wir beide heute nacht kein Auge mehr zu.«
Das löste zwar nicht das Problem; trotzdem nickte Leslie zustimmend. Immer noch ließ der Gedanke an die kalte, unartikulierte Stimme, die Schlampe gemurmelt hatte, ihr das Blut in den Adern gefrieren. Aber zumindest war bewiesen, daß sie nicht unter Verfolgungswahn litt. Emily hatte den Anrufer ebenfalls gehört, also bildete sie sich nichts ein. Leslie ging auf ihr Zimmer und ignorierte das Summen des Telefons und die deutlich vernehmbare Tonbandstimme – »Bitte legen Sie den Hörer auf …« Dann war es endlich still. So würde sie wenigstens nicht während der Nacht geweckt.
Graue Dunstfetzen trieben durch das finstere Zimmer. Leslie lag im Dunkeln und spürte, wie der Nebel über ihr Gesicht strich. Ein blasses, unheimliches Licht fiel herein, und mit seiner Hilfe konnte Leslie an den Wänden verschwommen die Umrisse von Gemälden ausmachen. Als sie eingezogen waren, hatten diese Bilder noch nicht hier gehangen. Sie waren kaum mehr als grobe, obszöne Schmierereien: die hingekritzelte Zeichnung einer Frau mit gespreizten Beinen, deren Vulva in einem schmutzigen Blutrot gemalt war, und ein von unzähligen Schwertern
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