Die Hüter der Schatten
bemerkt hat, daß unter dieser Nummer nur Frauen den Hörer abnehmen«, meinte Leslie. Diese Erklärung gefiel ihr besser als der Gedanke, daß sich am anderen Ende der Leitung niemand befand und eine unheimliche, unerklärliche Macht aus dem blinden Chaos der Finsternis heraus in ihr Leben eindrang.
Was die Türklingel oder das Telefon anging, das sogar bei abgenommenem Hörer läutete, so mochte eine längere Regenperiode durchaus merkwürdige Störungen in den elektrischen Leitungen hervorrufen.
Es schellte an der Tür. Emily sprang auf und rannte in die Diele. Augenblicke später kam sie stirnrunzelnd zurück.
»Niemand da. Schon wieder so ein verdammter Kurzschluß, nehme ich an. Na ja, wenigstens nicht die Zeugen Jehovas, die versuchen, einen zu missionieren.«
Leslie gingen die Nerven durch.
»Emily, ich habe die Klingel abgeschraubt ! Sie konnte nicht läuten! Komm und schau dir das an«, rief sie beinahe hysterisch und stieß ihren Stuhl zurück, der hinter ihr zu Boden krachte. Sie rannte in den Flur und wies auf die losen Drähte, die aus der Türklingel baumelten.
»Da! Siehst du? Ich habe sie abgestellt! Was ist hier los, du lieber Gott? Was geschieht hier mit uns?«
Tränen rannen Leslie über die Wangen. Beunruhigt klopfte Emily ihr auf die Schulter.
»Red keinen Quatsch, Leslie. Wie kannst du so was sagen? Wir haben die Türklingel doch beide gehört. Du hast wahrscheinlich den falschen Draht erwischt, und irgendwo da drin ist die Klingel doch noch angeschlossen.« Sie drückte den Klingelknopf.
Nichts.
»Siehst du?« schluchzte Leslie.
Sie hatte Emily nichts von den merkwürdigen Phänomenen erzählt – Eileens Poltergeist, der einen schweren Aschenbecher durch die Luft geschleudert und das Mädchen verletzt hatte; der Macht, die Joel ein Glas Wein ins Gesicht gegossen und Körbe die Treppe hinuntergeworfen hatte. Unverdrossen drückte Emily ein ums andere Mal ergebnislos die Türklingel und zupfte versuchsweise an dem herabhängenden Draht.
»Vielleicht hast du sie nicht richtig abgeklemmt und einen Wackelkontakt verursacht. Du solltest einen Elektriker rufen – wenn du so mit den Drähten herummachst, bekommst du am Ende noch einen Schlag.« Noch einmal zog sie an dem Draht. »Warum regst du dich bloß so auf, Schwesterherz?«
»Du verstehst einfach nichts von diesen Dingen …«
»Allerdings, und wenn ich dich so sehe, bin ich verdammt froh darüber«, explodierte Emily. »Man könnte meinen, du willst unbedingt an diesen ganzen verrückten parapsychologischen Kram glauben – außersinnliche Wahrnehmung, Poltergeister, und dann diese Anrufe von der Polizei. Hältst du dich für Uri Geller oder so was? Wahrscheinlich beschäftigst du dich zu viel mit Patienten, die eine Schraube locker haben, und jetzt färbt das langsam auf dich ab!« An dem losen Draht riß sie die Klingel aus der Wand, schleuderte sie auf die Treppe und stürmte zur Küche.
Leslie war sprachlos. Natürlich hätte jede vernünftige, aufgeklärte Erwachsene Emilys Standpunkt eingenommen. Wie konnte sie als intelligente Frau, die dazu ausgebildet war, ihren Verstand zu benutzen, ihrer vernünftig und logisch denkenden Schwester gegenüber von mentalen Angriffen und Poltergeistern reden? Langsam schloß Leslie die Tür hinter sich ab. Ehe sie auszogen, mußte sie die Türklingel reparieren lassen.
»Tut mir leid, Emily. Ich glaube, ich bin ziemlich mit den Nerven am Ende.«
»Du hast in letzter Zeit viel um die Ohren gehabt. Erst der Umzug und dann auch noch der Streit mit Joel«, antwortete Emily versöhnlich. »Aber jetzt habt ihr euch ja wieder vertragen. Wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung.«
Empört öffnete Leslie den Mund und schloß ihn wieder, denn Emily war bereits im Musikzimmer verschwunden, und die kräftigen Akkorde des Rachmaninow-Konzerts klangen durch die Diele. Emily verstand sie nicht, und möglicherweise war das ganz gut so.
Ihre kleine Schwester könnte sogar recht haben. Selbst Eileen hatte ihren Poltergeist nicht mehr erwähnt, seit sie ihren neuen Freund kennengelernt hatte. Fodor schrieb in seinem Buch, daß Poltergeist-Phänomene aus unterdrückter sexueller Energie entstanden. Sicher, der Mann war wie alle Freudianer davon überzeugt, daß sich jede neurotische Störung darauf zurückführen ließ. Aber vielleicht hatte Dr. Freud in diesem Fall recht.
Möglicherweise stimmt ja die Laientheorie, und ich brauche einfach einen Mann.
Nun ja, morgen abend traf sie sich mit Joel.
Weitere Kostenlose Bücher