Die Hüter der Schatten
Leslie warf die Sandwich-Reste und die Orangenschalen in den Mülleimer, stellte die Teller ins Spülbecken und ging dann in den Keller, um die Originalschachtel des Mixers und einen Pappkarton für die Teller zu suchen. Beim Verpacken des Geschirrs vergaß sie die Türklingel und das Telefon, und prompt wurde sie an diesem Abend nicht mehr gestört.
Die Umzugsvorbereitungen am nächsten Tag bescherten Leslie eine willkommene Ablenkung. Sie machte sich daran, die Telefongespräche abzuhaken, die sie aufgelistet hatte, suchte eine Druckerei auf, wo sie Visitenkarten mit ihrer neuen Geschäftsadresse bestellte, zeichnete eine kleine Karte für ihre Patienten, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihr kamen und suchte sich einen neuen Auftragsdienst mit Sitz in San Francisco. Gegen Abend hatte sie auch eine Umzugsfirma entdeckt. Die Männer würden irgendwann während der nächsten Woche kommen, um einen Kostenvoranschlag zu erstellen. Um den Flügel kümmerte sich ein darauf spezialisiertes Unternehmen. Das Instrument würde erst nach Emilys Vorspieltermin abgeholt. Nachdem den ganzen Nachmittag eine Woge Rachmaninow nach der anderen durchs Haus gedonnert und gebraust war, hatte Leslie gerade eben Zeit gefunden, zu duschen, ihr kurzes Haar zu waschen und es zu einem flotten Bob zu fönen. Eilig zog sie ihr bestes Kleid über.
Emily tauchte gerade lange genug auf, um ihre Schwester zu verabschieden. »He, du siehst klasse aus, Les. Viel Spaß, und grüß Joel von mir.« Dann war sie wieder zu ihrem Rachmaninow verschwunden.
Joel klopfte an die Tür. Seine Augen strahlten, als er Leslie in ihrem rotgoldenen Kleid erblickte.
»Emily spielt wirklich gut«, kommentierte er die Musik. »Aber macht es dich nicht wahnsinnig, immer wieder dieselben paar Takte zu hören?«
»Ich selbst habe nichts dagegen. Aber einige meiner Patienten macht es ein bißchen nervös. Deswegen kann ich Emily nicht spielen lassen, wenn ich eine Sitzung habe.« Heute, so kurz vor dem Vorspieltermin, hatte diese Einschränkung Emily beinahe zu hysterischen Anfällen getrieben. Aber Leslie hatte eisern bleiben müssen.
»Das neue Haus hat zwei schallisolierte Räume, die ich mir als Praxis einrichten werde. Dann kann Emily üben, sooft sie will. Soviel ich weiß, war die Vorbesitzerin ebenfalls Musikerin.«
»Jemand, den ich kenne?«
»Das bezweifle ich. Die alte Dame war eher eine begeisterte Amateurpianistin, von Beruf aber Psychologin. Was hältst du davon, da wir gerade von Zufällen sprechen?«
»Die Wirklichkeit ist oft seltsamer als ein Roman«, bemerkte Joel nicht eben originell und öffnete Leslie die Autotür. »Weißt du, wie die Frau hieß?«
»Margrave. Alison Margrave.«
Joel zog die Augenbrauen hoch und pfiff leise. »Die Welt ist wirklich klein. Kleiner, als man denkt. Dick Carmody aus unserer Kanzlei war einer ihrer Anwälte. Diese Miss Margrave war zwar alt, aber auf Draht. Soviel ich weiß, gehörten sie und die Carmodys irgendeinem verrückten Kult an – näheres kann ich dir allerdings nicht sagen. Eine von diesen religiösen Sekten. Aber wenigstens war der Verein nicht hinter dem Geld seiner Mitglieder her. Es waren Spiritisten oder so was. Sie hielten Seancen ab. Jedenfalls gab es einen großen Aufstand, als die alte Dame ihr Testament änderte. Ursprünglich wollte sie alles einem Adoptivsohn hinterlassen, doch aus heiterem Himmel vererbte sie das Haus dann ein paar entfernten Vettern in Omaha, Wyoming oder sonst einem gottverlassenen Flecken – Leuten, die sie nie im Leben gesehen hatte. Und dann ist die alte Miss Margrave – sie muß fast neunzig gewesen sein – ganz plötzlich gestorben. Das Gericht ließ die Todesursache ermitteln, und dieser Adoptivsohn oder was auch immer wurde verhört. Der hatte allerdings einen Unfall gehabt. Als Miss Margrave starb, lag er im Krankenhaus und wurde operiert. Das war auch so eine schreckliche Sache. Der Mann war Berufsmusiker. Ein berühmter Pianist, soviel ich weiß. Er hat ein Auge und sämtliche Finger einer Hand verloren. Ich weiß noch, daß ich damals dachte, wie schrecklich es ist, daß so was einen Musiker treffen mußte.«
»Mein Gott, heute abend wimmelt es ja nur so von Zufällen«, rief Leslie aus. »Du sprichst nicht zufällig von Simon Anstey?«
»Anstey … ja, ich glaube, so hieß der Mann. Als die alte Dame starb, war das Haus verriegelt und verrammelt. Soviel ich weiß, gehörte er zu den zwei oder drei Personen, die einen Schlüssel besaßen.
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