Die Hüter der Schatten
heirateten. Schließlich hatte sie ihre Kinder, wie sie Leslie häufig erklärte, nicht großgezogen, damit sie weggingen. Und weder Vater noch Mutter hatten begreifen können, warum Leslie sich einen interessanteren Beruf wünschte als den einer Lehrerin. Und Emilys Wunsch, zur Bühne zu gehen – zuerst zum Ballett, dann als Pianistin –, hatte sie geradezu entsetzt. Zwar hatten sie beiden Mädchen Ballett- und Klavierstunden verordnet, aber nur, weil dies in ihren Kreisen als respektable Beschäftigung für junge Mädchen galt. Aber so etwas zu einem Beruf zu machen, war nicht gut angesehen. Wie die meisten ihrer Freundinnen war Leslie froh gewesen, beides aufgeben zu können, als sie zum College ging. Sie spielte immer noch zu ihrem eigenen Vergnügen Klavier, aber nur, wenn Emily nicht zu Hause war.
Emily war immer schon ganz anders gewesen. Aber die Eltern hatten einfach nicht begriffen, warum Emily in Sacramento keinen Klavierlehrer fand oder wieso sie überhaupt einen Lehrer brauchte, da sie doch alle Stücke, die man ihr vorlegte, vom Blatt spielen konnte. Sie hätte sogar selbst Klavierstunden erteilen können, hatte ihre Mutter gemeint. Die Auseinandersetzung, ob Emily sich auch nur für das Konservatorium bewerben durfte, hatte bei beiden Parteien tiefe Narben hinterlassen. Leslie wußte, daß ihre Mutter ihr immer noch insgeheim die Schuld am Herzanfall ihres Vaters gab. Doch sie wußte es besser: Er war der klassische erfolgsorientierte Typ gewesen, der sich seinen Weg nach oben mit Zähnen und Klauen erkämpft hatte. Sie hatte sich gewundert, daß er überhaupt sechzig geworden war.
»Es ist jetzt erst einmal wichtig, Emily, dich auf deine Arbeit und diesen Vorspieltermin zu konzentrieren. Mom ist gut aufgehoben. Außerdem glaube ich, daß nicht mal ein ganzes Regiment Schutzengel sie dazu bewegen könnte, hierherzuziehen und ihre Freundinnen im Stich zu lassen. Sie hat sich ihr Leben nach ihren Wünschen eingerichtet und weiß, daß wir ebenfalls unser eigenes Leben aufbauen.«
Emily kramte schon wieder im Kühlschrank und kehrte mit einer riesigen, dickhäutigen Navel-Orange zurück.
»Möchtest du auch eine? Hattest du heute schon dein Vitamin C und Kalium?«
Lachend nahm Leslie die Apfelsine. Dann saßen sie da und pellten die dicke Schale ab, und die Küche füllte sich mit dem intensiven Duft des ätherischen Orangenöls. Emily zog die Rachmaninow-Partitur zu sich heran und studierte die Noten, während sie sich zerstreut die Obstspalten in den Mund stopfte. Leslie beschäftigte sich in Gedanken mit den Einzelheiten des Umzugs, betrachtete aber für einen Moment ihre jüngere Schwester. Emily trug kein Augen-Make-up, und ihr Haar hatte sich teilweise aus ihrem Zopf gelöst. Mit ihrem schlanken Hals und ihrer Kopfhaltung wirkte sie wie eine Ballerina. Eines Tages würde sie auf der Bühne eine wunderbare Ausstrahlung haben. Kein Wunder, daß ihre Mutter sich wie die sprichwörtliche braune Henne fühlte, die einen Schwan ausgebrütet hatte. Leslie griff nach dem Block am Telefon und begann sich Notizen zu machen. Immobilien waren immer eine gute Investition und würden unvermeidlich im Wert steigen. Sie brauchte sich für das neue Haus finanziell nicht zu verausgaben, ja nicht einmal viel mehr Patienten anzunehmen. An Stelle der Miete würden einfach die Hypothekenraten treten. Sie könnte sogar ein paar Stunden erübrigen, um an einer Poliklinik zu arbeiten, oder unentgeltlich einen oder zwei Patienten annehmen, die von öffentlichen Schulen an sie überwiesen wurden. Oder versuchte sie nur, ihr Gewissen zu beruhigen, weil sie nun zur besitzenden Klasse gehörte?
Das Telefon schrillte, und Leslie zuckte zusammen. »Ich gehe ran«, sagte Emily. Kurz lauschte sie. » Verpiß dich, du Bastard«, rief sie dann und knallte den Hörer auf die Gabel. »So muß man mit diesen Spinnern reden! Man muß es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen.«
»Hat wieder jemand gekeucht?«
»Na ja, ich konnte ihn nicht richtig verstehen, aber ich glaube kaum, daß er ›herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag‹ oder ›Hare Krishna‹ gesagt hat.«
»Zumindest brauchen wir uns in dem neuen Haus nicht mehr mit diesem Problem herumzuschlagen. Ich lasse mir eine Geheimnummer geben, die ich nur meinen Patienten nennen werde.«
»Du glaubst, der Bursche könnte ein ehemaliger Patient sein, der irgendeinen Groll gegen dich hegt?«
»Entweder das, oder es handelt sich um jemanden, der aufs Geratewohl vorgeht und
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