Die Hüter der Schatten
hatte – was hatte sie dort auch zu suchen gehabt? –, hatte sie sich die Erscheinung nur eingebildet. Eine Halluzination. Der Mann, wahrscheinlich ein harmloser Gasableser oder Handwerker, war ihr in der Einfahrt begegnet, und kurz darauf, in der Garage, hatte sie sich eingebildet, ihn von neuem zu sehen. Heute jedoch war alles leer und still. Joel, der eine Ladung Bücher auf dem Arm trug, pfiff anerkennend, als er die Jugendstilfenster aus buntem Glas und den Parkettboden sah.
»Das muß ja ein Vermögen gekostet haben, Les!«
»Halb so wild. War eine Art Sonderangebot.« Sie erzählte ihm, wie mehrere Käufer sich wieder zurückgezogen hatten, und setzte ihm sogar Emilys Theorie auseinander, das Ganze stelle eine Verschwörung dar, um die Leute aus dem Haus zu treiben und es ein weiteres Mal gewinnbringend zu verkaufen. Joel lachte so herzlich darüber, wie sie selbst es getan hatte. Also erläuterte Leslie ihm ihre Theorie. »Ich glaube, die Besitzer wollten das Haus loswerden, bevor sich das Gerücht verbreitet, sie hätten so etwas wie das Spukhaus von Amityville am Halse.«
»Ach, diese Geschichte!« Joel schien nicht besorgt. »Immerhin profitierst du von ihrer Leichtgläubigkeit. Ich würde sagen, das Anwesen ist anderthalbmal soviel wert, wie du bezahlt hast, vielleicht sogar das Doppelte. Aber vielleicht wissen die Erben in Nebraska ja nicht, wie hoch die Grundstückspreise hier an der Westküste liegen. Das Haus ist eine gute Investition. Du bist eine gewieftere Geschäftsfrau, als ich dachte.«
Leslie lachte leise. »Ach, ich habe mich einfach in das Haus verliebt. Komm, ich zeig’ dir alles. Die Kiste kannst du auf die Küchentheke stellen.« Sie ging durch die Küche, schob den Türriegel zurück und trat hinaus in den Garten. Schwach und blaß schien die Nachmittagssonne, und die Wolken waren nicht abgezogen – später würde es bestimmt wieder regnen. Aber von den feuchten Kräuterbeeten stieg eine durchdringend süße Duftmischung auf, und der Zitronenbaum an der Mauer verbreitete ein berauschendes Aroma.
Leslie hörte, daß in der Küche hinter ihr Wasser lief. »Les, wußtest du, daß das Wasser noch angeschlossen ist?« rief Joel.
»Gut, dann werden die Toiletten auch funktionieren. Ein Problem weniger am Umzugstag. Komm mal zu mir nach draußen, und schau dir den Garten an.«
Joel trat aus der Tür und sah sich um. »Da hat jemand viel Arbeit und Energie in dieses Fleckchen Erde gesteckt. Und Geld. Hier wachsen allerhand seltene Pflanzen. Der Hibiskus und diese gestreiften Fuchsien sind ziemlich ungewöhnlich. Und die alte Dame muß eine begeisterte Hobbygärtnerin gewesen sein. Sieh dir nur die vielen Kräuter an«, setzte Joel hinzu und kniete neben den kleinen grünen Beeten nieder. »Beinwell, Kamille, Salbei, Minze, Fingerhut – das ist das rosa Zeug, das hier ausgewuchert ist und alles andere erstickt. Eisenkraut, Lobelien, Thymian. Sämtliche üblichen Kräuter, aber auch eine ganze Reihe, die ich nicht kenne.«
»Ja, Emily war begeistert. Sie interessiert sich sehr für Kräuter.«
»Ist das eine Garage?« fragte Joel und wies auf den gedrungenen Bau.
»Früher mal, glaube ich. Sie ist aber zu einem Atelier ausgebaut worden. Als ich das Haus das erste Mal besichtigt habe, standen eine Töpferscheibe und anderer Künstlerkram darin.«
»Vielleicht solltest du wieder eine Garage daraus machen. In den nächsten zehn Jahren wird der Parkraum in den Großstädten immer weiter zusammenschrumpfen, so daß ein Haus ohne Garage zum Problem wird.«
»Na ja, ich habe eine schöne lange Einfahrt, und in unserem Klima kann man einen Wagen auch draußen lassen«, wandte Leslie ein, doch Joel blieb pessimistisch. »Die Verbrechensrate wird ebenfalls ansteigen. Ich für meinen Teil wäre froh über eine abschließbare Garage.«
Leslie zuckte die Achseln. »Der Gedanke ist zumindest eine Überlegung wert. Für ein Atelier ist der Raum ziemlich düster und trist. Aber einer der Vorbesitzer hat ein kleines Bad und einen Kamin eingebaut, und es wäre ziemlich aufwendig, das alles wieder herauszureißen. Ein Apartment mit eigenem Eingang ist wahrscheinlich auch eine ganz gute Investition.« Sie zog ihren Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. Joel rümpfte die Nase und verzog das Gesicht.
»Hier riecht es nach Verwesung. Ich hoffe, ihr habt keine Ratten.«
Leslie stieß den Atem aus, den sie vor Angst und Anspannung angehalten hatte. Sie hatte befürchtet, drinnen irgend etwas zu
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