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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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andere zu finden, die dir besser bekommt. Ich persönlich würde nie etwas anderes benutzen. Aber Ellen wird dir auch alle anderen Methoden erklären.«
    »Dann rufe ich am besten sofort an, ehe ich’s vergesse«, erklärte Emily. Leslie hörte, wie sie in der Diele telefonierte. Sie überlegte, ob Frodos Auftauchen Emily auf diesen Gedanken gebracht hatte oder ob dieses plötzliche Interesse an Verhütungsmitteln einfach zum Prozeß des Erwachsenwerdens gehörte. Es war auch höchste Zeit gewesen; Emily war jetzt fast achtzehn. Sie konnte sich nicht ihr Leben lang hinter einem Schutzwall aus Musik verstecken.
    Kaum hatte Emily aufgelegt, klingelte das Telefon. »Für dich, Les«, rief Emily auf dem Weg ins Musikzimmer über die Schulter. Leslie nahm das Gespräch am Apparat in der Küche entgegen, denn durch die Diele und das Musikzimmer hallten schon wieder donnernde Akkorde. Emily mochte einen plötzlichen Ausflug in die Erwachsenenwelt der Sexualität in Betracht ziehen, aber ihre große Liebe war immer noch die Musik. Aus ihrem Spiel vermochte Leslie stets auf Emilys Gemütszustand zu schließen.
    »Hallo?«
    »Dr. Barnes … Ich habe Ihr Foto im Enquirer gesehen und gelesen, wie Sie die Leiche dieses Mädchens entdeckt haben«, sagte die zittrige Stimme einer Frau. »Können Sie mir helfen, meinen Sohn zu finden? Er ist seit einem halben Jahr verschwunden …«
    »Nein«, entgegnete Leslie automatisch und ohne nachzudenken. Sie legte auf und spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Nicht schon wieder. Um Gottes willen! Alles, nur das nicht. Hörte es denn niemals auf? Sie ging zum Atelier. Hinter sich vernahm sie das neuerliche Klingeln des Telefons und wußte, daß sie dieselbe betrübte weibliche Stimme hören würde, wenn sie abnahm. Wieder drang das Irrationale in ihre Welt ein, trieb sie in die Enge und machte ihr angst.
    Es läutete weiter, doch Leslie reagierte nicht. Über die Schulter rief sie: »Geh nicht ran, Em. Das ist jemand, mit dem ich nicht reden möchte!«
    Emily und Frodo hatten die Tür offen gelassen, damit der Farbgeruch abzog. Auf der Schwelle blieb Leslie wie angewurzelt stehen. Vom tristen grauen Fußboden hob sich grellrot eine Blutlache ab. Darin lag regungslos die weiße Katze.
    Leslie hörte sich selbst aufschreien. Dann zerschmolz das Bild vor ihren Augen wie Nebel. Das also hatte Emily gesehen, und wäre nicht Frodo mit seinen einleuchtenden Argumenten gewesen, hätte sie weiter geleugnet, daß die Erscheinung überhaupt existierte. Aber wir haben es beide gesehen, dachte Leslie und klammerte sich an ihren Verstand wie an einen Strohhalm.
    In dieser Stadt lebten bestimmt Hunderte von weißen Katzen. Vielleicht hatte das Tier ein blutiges Ende gefunden, und der Schatten, das überweltliche Abbild, verharrte noch hier. Auf dieselbe Weise hatte Leslie, als sie Juanita Garcías Leiche betrachtet hatte, das Gesicht des Mörders erblickt.
    Bei jedem anderen Thema hätte ein Zehntel der vorliegenden Beweise mich bereits überzeugt; doch bei dieser Materie würde auch das Zehnfache an Beweisen mich nicht eines Besseren belehren …
    Auf jeden Fall war das Phänomen kurzlebig. Vielleicht zeigte es sich jedem Menschen nur einmal. Leslie mochte sich noch lange nicht eingestehen, daß es sich bei dem Tier, das im Garten und in Emilys Zimmer ein- und ausging, um dieselbe Katze handelte. Oder dasselbe Gespenst.
    Emily hatte ein paar Farbmuster auf der abgedeckten Nähmaschine liegen gelassen. Wenn Leslie zum Buchladen fuhr, um den Band über Reinkarnation abzuholen – und sie wollte unbedingt etwas darüber erfahren und wissen, wie sie auf die Worte gekommen war, die sie zu Susan gesagt hatte –, würde sie einen passenden Stoff kaufen und die Kissen des alten Schaukelstuhls neu beziehen. In diesem Stuhl hatte ihre Mutter sie gestillt, und eine ihrer deutlichsten Erinnerungen war, wie sie als Zehnjährige darin gesessen hatte, als man ihr die neugeborene Emily in die Arme legte. Das ist mein Baby, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt. Das ist nicht dein Baby, sondern meins. Leslies Mutter hatte nur gelacht. Aber nach ihrem Erlebnis von heute morgen kam Leslie ins Grübeln. Emily hatte in ihrer Familie stets eine Außenseiterrolle eingenommen. Weder ihre Mutter noch ihr praktisch veranlagter Vater hatten Emily je verstanden oder sich in ihrer Gegenwart wohl gefühlt. Nur Grandma und ich standen ihr nahe. Vielleicht brauchte Emily eine Familie, die ihr nicht allzu viel Verständnis

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