Die Hüter der Schatten
realistisch zu sehen! Vernünftig zu sein, statt auf die Leute zu hören, die um mich herumstehen und mir einreden, was für ein verdammtes Genie ich wäre!« Sie riß sich von Leslie los. »Und du bist am allerschlimmsten. Ständig treibst du mich an und erzählst mir, ich hätte eine Karriere verdient. Und was hat dir dein Beruf gebracht? Mommy hatte recht! Du bist völlig abgehoben und hältst dich für eine Karrierefrau, und jetzt willst du mein Leben auch noch kaputtmachen!«
Leslie holte tief Luft und führte sich vor Augen, daß dies nicht wirklich Emilys Meinung war. Ihre Schwester war offensichtlich völlig außer sich.
»Schön«, erklärte sie kurz angebunden. »Meinetwegen verkauf das Klavier. Das Semester am Konservatorium ist ohnehin in ein paar Tagen vorbei. Du könntest dich für die Sommerkurse an der Uni anmelden, Maschinenschreiben lernen und einen PC-Kurs machen.«
Emily stand da und blinzelte ihre Schwester verwirrt an.
»Wie bitte?«
»Ich wollte dir nur begreiflich machen, daß dir noch andere Möglichkeiten offenstehen. Niemand hat dich zu lebenslanger Haft am Flügel verurteilt. Es ist schließlich dein Leben. Meines solltest du allerdings aus dem Spiel lassen, kapiert?«
»Was meinst du bloß? Um Gottes willen, was habe ich denn gesagt, um dich so in Rage zu bringen?« fragte Emily so aufrichtig erschrocken, daß Leslie sie verwirrt anschaute. Noch einmal holte sie tief Luft.
»Ich glaube, du bist müde, Emmie, und deswegen reagierst du so heftig. Komm in die Küche. Ich koche dir einen Tee. Hast du überhaupt daran gedacht, etwas zu essen?«
Emily rieb sich die Augen. Ihr Gesicht war verquollen vom Weinen.
»Ja, wahrscheinlich bin ich wirklich übermüdet. Auf einmal schien alles auf mich einzustürzen. Es ist so hoffnungslos. Ich habe mich total festgefahren. Meine Hände …« Sie breitete sie vor Leslie aus. »Sie fühlen sich steif und gräßlich an. Beim Üben habe ich lauter dumme Fehler gemacht. Agrowsky hat mal gesagt, daß jeder ab und zu solche Phasen erlebt, daß er sich ausgebrannt fühlt. Damals dachte ich, er wollte mich bloß aufmuntern. Und jetzt fährt er für sechs Wochen in die Schweiz, und ich weiß genau, daß ich mir diesen Sommer alle möglichen schlechten Angewohnheiten zulege.«
Sie schniefte und deckte die Farbdosen ab. »Keine Ahnung, was eben in mich gefahren ist. Tut mir leid. Aber etwas Wahres ist doch daran, Les. Oder glaubst du ernsthaft, daß meine Ausbildung so viel Zeit und Geld wert ist, obwohl ich nicht den Hauch einer Chance auf eine Konzertkarriere habe? Wahrscheinlich endet die Sache irgendwann damit, daß ich Klavierstunden gebe oder in irgendeiner beschissenen Kirche die Orgel spiele.«
»Das wäre mir eine schöne Kirche«, meinte Leslie. »Du solltest dich manchmal reden hören, Emmie.«
Emily zögerte, ließ ihre letzten Worte noch einmal vor ihrem inneren Ohr ablaufen und kicherte zaghaft.
»Ich glaube, ich möchte wirklich einen Tee«, sagte sie und folgte Leslie in die Küche. »Aber du brauchst ihn nicht zu kochen. Du bedienst mich sowieso schon viel zu sehr. Ich nütze dich aus. Nicht mal meinen Anteil am Abwasch erledige ich …«
Leslie zuckte die Achseln. »Dafür kannst du mich pflegen, wenn ich alt und schwach bin«, entgegnete sie bewußt schnoddrig.
»Jetzt mal ehrlich, Leslie«, fuhr Emily fort, als sie mit einer Tasse Tee und einem Plätzchen in der Hand am Tisch saß. »Wegen eben, meine ich. Glaubst du wirklich, daß die entfernte Möglichkeit, irgendwann Konzertpianistin zu werden, so viel Aufwand und Geld wert ist? Diese Art zu leben … niemals zu tun, was andere tun …«
»Woher soll ich das wissen, Emily? Ich bin keine Expertin. Ich finde, daß du ausgezeichnet spielst, aber dafür kannst du dir nichts kaufen. Wenn du die Meinung eines Fachmanns hören willst, geh zu Agrowsky oder einem anderen Professor am Konservatorium.«
Tief sog Emily den Atem ein und stieß ihn zittrig wieder aus. »Agrowsky verdient eine Menge Geld an mir. Soll er etwa zugeben, daß er mich nur ausnimmt?«
»Dann wende dich an Dr. Anstey. Er kennt dich nicht und hat dich nur einmal spielen gehört. Du kannst ihn nicht mal leiden. Er müßte dich unvoreingenommen beurteilen.«
Noch einmal zog Emily die Nase hoch. »Vielleicht tu’ ich das wirklich. Haben wir Kleenex, Les?«
»In meinem Büro steht eine Schachtel«, sagte Leslie, und Emily ging sich die Papiertücher holen. »Denk daran, sie zurückzustellen, wenn du sie nicht mehr
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