Die Hüter der Schatten
entgegenbrachte, um sich zu einer Kämpfernatur zu entwickeln. Selbst wenn ich eines Tages eigene Söhne und Töchter habe, wird Emily immer mein Kind bleiben. Mag sein, daß sie auf dieselbe Weise zu mir gekommen ist wie die arme kleine Chrissy zu Susan. Allerdings habe ich dabei mehr Glück gehabt.
Angewidert schlug Leslie sich das Ganze sofort wieder aus dem Kopf. Reinkarnation, also wirklich! Sie war ja schlimmer als die abergläubische Gans am Telefon, die eine Hellseherin, deren Namen sie in einem Revolverblatt gelesen hatte, um Hilfe bei der Suche nach ihrem Sohn bat. Wütend stapfte sie in die Küche und holte das Bandmaß, um die Kissen des Schaukelstuhls auszumessen. Wahrscheinlich hatte die alte Kuh ihren Sohn aus dem Haus getrieben, indem sie ihn behandelte, als wäre er immer noch zehn Jahre alt. Die meisten Mütter taten das – man sehe sich nur ihre eigene Familie an! Mom hatte wahrhaftig versucht, Emily eine Lehrerausbildung aufzuzwingen!
Leslie maß die verschlissenen alten Polster aus, zog den Schaukelstuhl in die Mitte des Ateliers und nahm die Abdeckplanen herunter. Dann kramte sie nach Bleistift und Papier, um die Maße zu notieren. Sie brauchte ungefähr zwei Meter. Einen hübschen, freundlichen Stoff würde sie aussuchen; sie hatte kürzlich ein Muster mit Gänseblümchen gesehen. Sie warf einen Blick hinter sich – hatte der Schaukelstuhl sich von allein bewegt? Ach, verdammt, jetzt sah sie schon in jeder Ecke Gespenster! Bald würde sie Geister unter dem Bett suchen oder den Enquirer zu Rate ziehen!
Alles, was sie für ihre Patienten tat, hätte sie auch als Astrologin oder Hellseherin erreichen können. Zumindest könnte sie ihnen als Wahrsagerin oder Sterndeuterin die Illusion von Hoffnung schenken, statt sie zu heilen und geistig gesund in eine verrückte Welt hinauszuschicken, die sich wahrscheinlich selbst in die Luft sprengen würde, ehe das Jahrhundert zu Ende ging. Ja, vielleicht sollte sie als Hellseherin praktizieren. Beruflich befand sie sich auf jeden Fall in einer Sackgasse, und das bereits zum zweitenmal. Als Schulpsychologin hatte sie versagt, und nun hatte sie das Gefühl, ihren Patienten so wenig bieten zu können, daß sie ihnen spirituellen Rat über Reinkarnation zukommen ließ!
Mit einem Mal fühlte Leslie sich tief deprimiert. Sie warf den Bleistift zur Seite. Was spielte es für eine Rolle, ob sie den alten Schaukelstuhl bezog oder nicht? Wenn sie nicht noch einige Patienten hinzugewann, konnte sie sich dieses Haus ohnehin nicht mehr lange leisten; und da sie wußte, wie wenig ein Therapeut für seine Patienten tun konnte, wäre es unaufrichtig gewesen, neue anzunehmen. Vielleicht sollte sie Joels Heiratsantrag doch akzeptieren und ihren Beruf an den Nagel hängen. Das wäre zumindest ehrlicher. Als Joels Frau wüßte sie wenigstens, woran sie war.
Während Leslie in ihrem Büro auf Eileen Grantson wartete, ließ sie sich von der Stille des schallisolierten Raums umfangen und fühlte sich bald besser. Als das Telefon klingelte, nahm sie ab und vernahm wieder die Stimme der Frau.
»Bitte, legen Sie nicht auf, Dr. Barnes. Erlauben Sie mir, Sie aufzusuchen und mit Ihnen zu reden. Ich kann meinen Jungen nicht einfach verloren geben! Er ist mein einziger Sohn. Ich muß wissen, ob er noch lebt. Wenn er tot ist, brauche ich mich nicht mehr um ihn zu sorgen, und wenn er lebt, weiß ich es wenigstens.«
Leslie war drauf und dran, wieder aufzulegen. Doch in der Stimme der besorgten Mutter schwang eine solche Verzweiflung, daß sie zögerte. »Wohnen Sie in der Stadt?«
»In Marin County.«
»Also gut. Kommen Sie heute abend zu mir.« Dann würde Joel da sein. Vielleicht konnte er der Frau die Sache ausreden. »Um sieben Uhr?«
»Das ist wunderbar. Oh, danke, Dr. Barnes, vielen Dank. Gott segne Sie …«
Beinahe grob schnitt Leslie der Fremden die Dankesworte ab und beobachtete, wie Eileen Grantson die Einfahrt heraufkam. Jetzt stand ihr vermutlich eine einstündige Diskussion über Poltergeister bevor. Eine Geisterkatze, PSI-Phänomene, Reinkarnation – das geschah ihr nur recht. Wieso war sie auch in ein Spukhaus gezogen?
11
Aber zu Leslies Erstaunen kam Eileen ein weiteres Mal mit keinem Wort auf den Poltergeist, fliegendes Porzellan oder ähnliche Themen zu sprechen. Sie redete die ganze Stunde über ihren Freund Scotty, einen Streit mit ihrem Vater darüber, wann sie zu Hause sein mußte, wenn sie mit Scotty ausging, und über ihre Gefühle bezüglich
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