Die Hüter der Schatten
nickte, denn sie wollte diese Erkenntnis nicht durch Worte verwässern. Wäre ihre eigene Mutter doch in der Lage gewesen, das zu akzeptieren. Hätte sie doch nur begriffen, daß ihre hochbegabte Tochter ein eigenes Schicksal besaß … und daß Emily sich selbst und ihrem Talent gehörte und nicht Constance und James Barnes.
Schließlich schlug die Kuckucksuhr elf, und Susan verabschiedete sich, immer noch damit beschäftigt, ihre neuen Einsichten zu verdauen. Leslie blieb in ihrem Büro sitzen und fragte sich, was in aller Welt in sie gefahren war. Bisher hatte sie höchstens ein leises intellektuelles Interesse für die Philosophie der Reinkarnation aufgebracht. Aber irgendwie hatte sie die richtigen Worte gefunden, die Susan an diesem toten Punkt in ihrem Leben gebraucht hatte. Woher hatte sie diese Worte genommen?
Leslie bereitete sich in der Küche ein Sandwich zu, als sie Gitarrenmusik hörte. Emily und Frodo saßen in farbbekleckster Kleidung auf der Gartenmauer. Der junge Mann spielte auf seiner Gitarre und sang dazu. Emilys normale Reaktion hätte darin bestanden, sich die Ohren zuzuhalten oder davonzulaufen.
Vielleicht, überlegte Leslie, hatte ihre Schwester einen Menschen gefunden, dem zuliebe sie bereit war, ihre tief verwurzelten Meinungen und Vorurteile zu überprüfen. Sie kannte Emily gut genug, um zu wissen, daß sie Frodo nicht einfach akzeptierte, weil er ein Mann war, der Interesse an ihr bekundete – sie hatte oft genug erlebt, wie unerbittlich Emily junge Männer abwies, die versuchten, sie für angeblich normale Teenager-Aktivitäten wie Discobesuche oder Sport zu interessieren. Aber sie erinnerte sich, daß Emily erzählt hatte, Frodo spiele Querflöte. Das machte wahrscheinlich den Unterschied aus; deswegen waren seine Ansichten bedenkenswert, vielleicht sogar, was Musik anging. Leslie trat auf die Veranda hinaus.
»Wie wär’s mit ein paar Sandwiches?«
»Oh, prima«, rief Emily. »Haben wir Käse? Komm, Frodo, ich mach’ uns was zu essen, bevor du zur Arbeit mußt.«
Sie kam in die Küche und setzte in einem Topf ein paar Eier auf, um sie hart zu kochen. »Was für einen Tee möchtest du, Frodo? Zitronengras, Kamille?«
»Zitronengras wäre nicht übel«, antwortete Frodo. »Hallo, Dr. Barnes.«
»Nennen Sie mich bitte Leslie. Sogar Patienten meines Alters sprechen mich mit dem Vornamen an«, sagte Leslie lächelnd und reichte ihm Honig für seinen Tee. Sie mochte diesen freundlichen jungen Hippie.
»Hast du die Katze gefunden, Les?«
Leslie hatte das Tier ganz vergessen. Sie wollte gerade antworten, daß sie noch keine Zeit gehabt hatte, sich darum zu kümmern, als Frodo durch die geöffnete Küchentür nach draußen wies.
»Meinst du Miss Margraves weiße Katze? Da läuft sie doch, unter den Rizinusbüschen. Siehst du?«
»Aber das ist unmöglich«, rief Emily, lief zur Tür und verstummte dann. »Ich hab’s dir doch gesagt, Les. Das ist eine Geisterkatze. Kein Blut zu sehen.«
»Emily, in dieser Stadt gibt es unzählige weiße Katzen …«, begann Leslie, doch Emily war schon dabei, Frodo zu berichten, wie sie die Katze heute morgen blutüberströmt in der Garage gefunden hatte. Erstaunlich, daß sie den jungen Mann nicht schon beim Anstreichen mit der Geschichte beglückt hat, dachte Leslie ironisch. Bevor Emily zu Ende erzählt hatte, klingelte die Zeituhr am Herd. Das Mädchen lief zum Topf, nahm die Eier heraus und rollte sie in den Händen hin und her, während sie im Spülbecken Wasser über die Schalen laufen ließ. Dann begann sie die Eier zu pellen.
»Das verwundert mich nicht«, meinte Frodo. »Dieses Atelier strahlt etwas Merkwürdiges aus. Claires Freundin sagte, alle Erscheinungen schienen sich um die ehemalige Garage zu drehen. Kerzen verloschen dort von selbst, der Nebel zog bis in den Raum, und sie hatte Alpträume, die mit dem Atelier zu tun hatten. Zwei- oder dreimal wurde ein Stück, an dem sie auf der Töpferscheibe arbeitete, zerstört, obwohl niemand dort war. Von unsichtbaren Händen, behauptet sie.«
»Und Sie glauben das alles, Frodo?« fragte Leslie neugierig.
Frodo nippte an seinem Tee und schaute Leslie an, als fürchte er, mit dem, was er sagen wollte, ins Fettnäpfchen zu treten. »Manchmal ja, manchmal nein. Aber der springende Punkt ist, daß ich Betty Carmody kenne. Sie ist weder nervös noch hysterisch, und das reicht mir. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, Dr. Barnes … Leslie«, verbesserte er sich, »daß Sie einem Menschen, den
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