Die Hüter der Schatten
durchaus realen Schwierigkeiten. Es hatte nichts mit neurotischer Fehlanpassung zu tun wie bei etlichen ihrer anderen Patienten. Probleme von solchem Kaliber hatten schon andere Frauen in den Selbstmord getrieben und würden es weiter tun.
»Eigentlich nicht«, antwortete Susan nach einer Weile nachdenklich. »Ich habe immer noch das Gefühl, daß es irgendwo, irgendwie, einen Grund für das alles geben muß. Einen Grund dafür, daß Chrissy so ist, wie sie ist, und daß ich ihre Mutter bin. Rational weiß ich, daß ich nichts Falsches getan habe, und Chrissy auch nicht – sie ist doch nur ein Baby. Heutzutage reden die jungen Leute viel über Wiedergeburt, Karma und so was alles. Wäre es möglich, daß Chrissy und ich einander in einem vergangenen Leben etwas angetan haben – mit der Folge, daß wir jetzt auf diese Weise gemeinsam in der Klemme sitzen? Ich finde, das ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt.«
Stille. Überdeutlich hörte Leslie das Ticken der Kuckucksuhr. Sie wußte, nach sämtlichen Verhaltensmaßregeln ihres Berufs mußte sie etwas sagen, um diese irrationale Vorstellung zu zerstreuen. Warum sollte sie zulassen, daß Susan, die genug Schuldgefühle für ein ganzes Leben angehäuft hatte, dem Gedanken nachhing, ihre Probleme umfaßten sogar mehr als eine Existenz auf Erden?
»Ich weiß nicht, Susan«, sagte sie schließlich. »Ich glaube nicht, daß die Sache ganz so einfach ist. Es geht nicht darum, in einem Leben gut oder böse zu sein und im nächsten dafür bestraft oder belohnt zu werden. Das geht kaum einen Schritt über die allzu simple religiöse Vorstellung hinaus, daß wir für unsere Taten bezahlen, indem wir in den Himmel oder in die Hölle kommen. Ich will nicht wie Ihr Pfarrer klingen und behaupten, wir dürften Gottes Ratschluß nicht anzweifeln. Ich hin eher der Meinung, wir müßten unser Leben hinterfragen. Wenn ich überhaupt eine religiöse Überzeugung hege, dann die, daß es tatsächlich eine Ordnung im Universum gibt. Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, daß wir uns vielleicht unser Schicksal selbst erwählen, ehe wir in dieses Leben eintreten?«
»Meinen Sie etwa, ich hätte mir das ausgesucht?« rief Susan.
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Susan«, erklärte Leslie zum wiederholten Mal, während ein distanzierter Teil ihrer selbst sich fragte, warum in aller Welt sie so etwas erzählte. Aber sie war sich im Leben noch nie einer Sache so sicher gewesen. »Woher sollen wir wissen, wie die Dinge aus einer übergeordneten Perspektive aussehen? Möglich, daß Sie aus irgendeinem Grund lernen mußten, Mitgefühl für Behinderte zu empfinden. Manche Eltern hätten ein Kind wie Chrissy in ein Heim gesteckt, sobald sie von ihrer Behinderung erfahren hätten …«
»Aber sogar als David mich anflehte und erklärte, dies sei die einzige Möglichkeit, unsere Ehe zu retten, habe ich das nicht fertiggebracht«, sagte Susan. »Ich war der Meinung, er müsse diese Bürde mit mir teilen. Heute weiß ich, daß er nicht der Mensch war, der dazu in der Lage gewesen wäre. Die Art, wie er auf Christina reagierte, hat mir das gezeigt. Wäre Chrissy … normal gewesen, hätte ich vielleicht weiter geglaubt, David sei der richtige Partner für mich. Chrissy hat mir gezeigt, daß ich von meinem Mann nicht erwarten durfte, sein eigenes Wohlbefinden und seine Bequemlichkeit zurückzustellen. Ich glaube, ich habe es die ganze Zeit gewußt.«
»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Leslie.
»Ich werde versuchen, eine andere Schule für Christina zu finden«, erklärte Susan bedächtig. »Und ich sehe allmählich ein, daß ich sie eines Tages vielleicht doch in ein Heim geben muß. Aber bis dahin werde ich mein Bestes für sie tun und ihr geben, was ich kann … alle Liebe, zu der ich fähig bin. Wenn das nicht mehr möglich ist, muß ich vielleicht etwas anderes mit meinem Leben anfangen. Wenn Chrissy sich meiner … Unterstützung und Liebe sicher ist, solange ich ihr sie geben kann, wird sie möglicherweise …« Susan hielt kurz inne. »Vielleicht liegt ihr Schicksal nicht vollständig in meinen Händen. Ich kann nur im Rahmen meiner Möglichkeiten etwas für sie tun, und dann muß ich sie gehen lassen …« Langsam, immer wieder innehaltend, suchte die junge Frau nach den richtigen Worten. »Dann muß ich zulassen, daß Chrissy herausfindet, was ihr Schicksal ist, selbst wenn es nicht darin besteht, zu Hause zu bleiben und mein armes, hilfloses Baby zu sein.«
Leslie
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