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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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eines geplanten Besuchs bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in Texas.
    Als Leslie beobachtete, wie Eileen nach der Sitzung die Treppe hinunterlief, wußte sie nicht, ob sie sich erleichtert oder enttäuscht fühlen sollte. Um Eileens willen war sie froh, daß die unheimlichen Vorkommnisse erst einmal aufgehört und sich vielleicht für immer verabschiedet hatten.
    Eileens Poltergeist war verschwunden, als sie einen Freund gefunden hatte. Als Leslie ihre Beziehung mit Joel wiederaufgenommen und wieder mit ihm geschlafen hatte, hatten die von ihr hervorgerufenen Poltergeist-Phänomene – falls es sich wirklich um solche handelte – sich eher verstärkt. Der Grund lag also nicht einfach in frustrierter sexueller Energie.
    Vielleicht sollte sie zum Laden gehen und sich Miss Margraves Buch kaufen. Außerdem hatte sie ja Frodo gebeten, ihr etwas über Reinkarnation herauszusuchen. Aber jetzt wurde ihr die Zeit knapp. Um fünf kam Joel, den sie zu einem Steak eingeladen hatte, und sie hatte das Fleisch noch nicht einmal eingekauft.
    Leslie fiel auf, daß der Flügel im Musikzimmer verstummt war. War Emily ausgegangen? Nein, vom Küchenfenster aus konnte Leslie erkennen, daß die Tür des Ateliers immer noch offenstand; ihre Schwester hielt sich vermutlich dort auf, um anzustreichen.
    Richtig. Emily stand in abgeschnittenen Jeans und barfüßig da und pinselte lustlos Farbe auf ein Fensterbrett.
    »Der Raum wird wirklich hübsch aussehen, wenn er fertig ist, Emily«, bemerkte Leslie.
    Ihre Schwester hob kaum den Blick. »Ja. Kann schon sein.«
    »Soll ich dir helfen? Oder ich mache den Anstrich morgen fertig, wenn du üben möchtest. Wir haben es nicht eilig.«
    »Ist doch egal«, gab Emily zurück, die immer noch mechanisch dieselbe Stelle strich. »Schon okay.«
    »Hast du irgendwas, Em? Soll ich dich in Ruhe lassen?«
    »Nein, alles in Ordnung. Du hast nichts damit zu tun.« Emily nahm sich das nächste Schiebefenster vor. »Ich hab’ einfach nur die Nase voll. Seit sechs Jahren übe ich fünf Stunden täglich, und was ist dabei herausgekommen? Du hast doch die Beurteilung der Jury gelesen.« (Tatsächlich hatte Leslie die Papiere nicht gesehen.) »Als ich zuerst hineingeschaut hab’, sah alles phantastisch aus. Aber einer der Juroren hat kritisiert, daß ich zu tief sitze, und behauptet, auf diese Weise würde ich Kraft vergeuden. Um Himmels willen, mich für meine Haltung zu kritisieren – so was wirft man einer Neunjährigen vor! Anstey schreibt, ich besäße ein ausgeprägtes Gefühl für Rachmaninow – ist ihm denn zu meinem Spiel und meiner Technik nicht mehr eingefallen? Wahrscheinlich gab es einfach nichts Positives mehr zu sagen, nicht einmal, was ich falsch mache. Und dann kriegt die Paddington, diese fette Kuh, die Chance zum Vorspielen fürs Sinfonieorchester. Wenn sie besser ist als ich, muß ich ja wohl grottenschlecht spielen …«
    »Aber Simon Anstey ist zu dir gekommen und hat dich persönlich beglückwünscht«, erinnerte Leslie ihre Schwester, wobei sie sich fragte, was plötzlich in Emily gefahren sein mochte. »Ich habe nicht gesehen, daß er anderen Studenten gratuliert hätte.«
    »Ja, und er ist darauf herumgeritten, wie jung ich doch sei. Als wäre ich ein Wunderkind oder so was! Sehe ich wirklich so jung aus? Ich glaube, er wollte bloß andeuten, daß ich noch zu unreif für einen solchen Wettbewerb bin.«
    »Aber du bist in seine Meisterklasse aufgenommen worden«, widersprach Leslie, »und ich bezweifle, daß er eine blutige Anfängerin akzeptieren würde …«
    »Er hat auch Steve Kalapergos genommen, und dieser Freak hat Pfoten wie Wiener Schnitzel. Anstey hat sich die verdammten Nichtskönner geholt«, rief Emily wutentbrannt. »Vielleicht hält er uns für so schlecht, daß wir seine bescheuerte Meisterklasse nötig haben! Und hör gefälligst mit deinen Aufmunterungsversuchen auf! Scheiße, Leslie, meine verdammte Karriere ist vorbei, ehe sie überhaupt angefangen hat.« Emily warf den Pinsel zu Boden und brach in Tränen aus. Aus ihrem Schluchzen hörte Leslie wilde Verwünschungen, aber nur wenige zusammenhängende Wörter heraus.
    »Mein ganzes Leben lang nur gearbeitet … umsonst … für nichts …«
    »Emily! Hör sofort damit auf!« Leslie faßte ihre Schwester bei den Schultern und schüttelte sie leicht. »Du hast überhaupt keinen Grund, hysterisch zu werden!«
    »Ich bin nicht hysterisch«, kreischte Emily. »Ich versuche bloß zur Abwechslung mal, die Dinge

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