Die Hüter der Schatten
Sie als geistig gesund und aufrichtig kennen, glauben würden, wenn er Ihnen sagt, er habe dieses und jenes gesehen oder empfunden? Aber bei bestimmten Äußerungen ziehen wir sofort den Schluß, daß die Person lügt, unter Drogen steht oder was weiß ich. Wenn Betty Carmody behauptet, diese Dinge seien ihr passiert, dann ist das für mich so, als hätten Rainbow oder Claire es gesagt. Ich glaube ihr.«
So hatte Leslie das noch nie gesehen, und dabei hatte sie in Sacramento dasselbe erlebt. Man hatte sie für eine Lügnerin gehalten und ihre Erkenntnisse als Einbildung oder Spinnerei abgetan. Einige Leute waren noch nach Entdeckung der Leiche Juanita Garcías davon überzeugt gewesen, sogar nachdem Leslies Beschreibung die Polizei zu einem Verdächtigen geführt hatte, der schon einmal verhört worden war, und als man blutbefleckte Kleidungsstücke und Haarsträhnen der Opfer bei diesem Mann gefunden hatte. Die Leute zogen vor zu glauben, daß Leslie als Mitwisserin oder Komplizin an den Verbrechen beteiligt gewesen war.
Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio … Leslie verkniff sich das Klischee. »Führen Sie in Ihrem Laden auch Bücher über Reinkarnation, Frodo?« fragte sie statt dessen.
»Jede Menge, gute und schlechte. Warum? Möchten Sie sich mit der Reinkarnationslehre beschäftigen?«
»Ich bin … bloß neugierig«, antwortete Leslie.
»Wir haben sogar eines, das von einer Psychotherapeutin verfaßt ist. Sie hat sich mit den Problemen ihrer Patienten beschäftigt, indem sie danach suchte, welche … nun ja, Lasten die Leute aus ihren früheren Leben mitgebracht hatten«, sagte Frodo. »Miss Margrave schwor darauf und hat sogar die Einleitung für die Taschenbuchausgabe geschrieben.«
Ach, wirklich? Das hört sich sehr interessant an, dachte Leslie. »Dann versuche ich, heute noch vorbeizuschauen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ein Exemplar für mich auftreiben könnten.«
»Klar. Kein Problem.«
»Möchtest du Senf auf deinen Eiersalat, Frodo?« wollte Emily wissen. »Leslie, willst du auch etwas? Schmeckt gut.«
Das Gespräch verlagerte sich vom Okkulten ins Allgemeine. Leslie warf einen Blick ins Atelier; die Wände waren bereits mit einer Schicht schnelltrocknender Farbe bedeckt, und Emily versprach, nach dem Mittagessen die Tür- und Fensterrahmen zu streichen. »Aber vorher sollte ich besser noch eine oder zwei Stunden üben, Les.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich nach der Arbeit vorbeikomme und meine Laute mitbringe?« fragte Frodo. »Ich möchte zu gern hören, wie sie zusammen mit deiner Harfe klingt, Em.«
»Dann habe ich Emily wohl falsch verstanden. Ich dachte, Sie spielen Flöte, nicht Laute«, warf Leslie fröhlich ein. Frodo grinste wegwerfend.
»Flöte spiele ich auch. Und ein bißchen Klavier, aber nicht so wie Emily, nicht ernsthaft. Zur Zeit studiere ich die Sitar. Und ich beschäftige mich ein wenig mit dem Cello.«
»Frodo ist schon mit elf Jahren als Cello-Solist mit dem Philharmonischen Orchester von Dallas aufgetreten«, verkündete Emily eifrig.
Ja, dachte Leslie, das ist einmal ein junger Mann, den Emily ernst nehmen kann.
Kurz darauf schulterte Frodo seine Gitarre und machte sich auf den Weg zum Buchladen. Emily ging ins Musikzimmer, doch als Leslie die Sandwichreste von den Tellern kratzte und das Geschirr ins Spülbecken stellte, tauchte sie noch einmal auf.
»Hör mal, Les«, begann sie zaghaft, »ich muß zum Arzt. Zu deiner Gynäkologin. Kann ich dort einfach anrufen und mir einen Termin geben lassen?«
»Sicher, warum nicht?« antwortete Leslie. »Hast du Beschwerden, Em? Krämpfe oder so etwas?«
»Nein. Ich meine, hmmm, ich könnte wahrscheinlich auch einfach zur Familienberatungsstelle gehen.«
Leslie war froh, daß sie ihrer Schwester den Rücken zuwandte. Sie wollte sich ihre Verblüffung nicht anmerken lassen. Emilys Vertrauen war ihr viel wert. »Nein, ruf ruhig Ellen Baring an. Sie ist eine ausgezeichnete Ärztin und sehr einfühlsam. Ich bin immer schon lieber zu einer Frauenärztin gegangen als zu einem Mann.«
»Leslie …« Emily zögerte. »Glaubst du all diese schrecklichen Dinge, die über die Pille erzählt werden?«
»Auf keinen Fall. Ich bin überzeugt, neunzig Prozent davon beruht auf Propaganda der katholischen Kirche. Das einzige, was an der Pille nicht stimmt, ist ihre Zuverlässigkeit. Natürlich kann man allergisch darauf reagieren. Aber wenn du eine Marke nicht verträgst, besteht die Möglichkeit, eine
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