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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Menschen erschrecken kann, die lachen und sich amüsieren.« Sie klopfte Emily auf die Schulter. »Ich muß noch zum Supermarkt und ein Steak kaufen. Joel kommt zum Abendessen. Er hat Spätdienst beim Gericht.«
    Wie nicht anders zu erwarten, rümpfte Emily beim Wort »Steak« die Nase.
    Als Leslie zurückkehrte, war Emily in der Küche damit beschäftigt, sich ein Käsesandwich zu grillen. »Rainbow hat mich zu einer Veranstaltung im Buchladen eingeladen«, sagte sie. »Ich komme wahrscheinlich spät nach Hause. Falls Joel also über Nacht bleiben will …«
    Leslie lachte. »Ich sagte doch, daß er zum Gericht muß. Trotzdem vielen Dank, Emmie.«
    Auf dem Weg nach draußen hauchte Emily ihr einen raschen Kuß auf die Wange. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Les. Ehrlich.«

12
     
     
    Das Steak war köstlich. Leslie hatte das Fleisch so zubereitet, wie Joel es sie gelehrt hatte, und es mit frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer eingerieben. Anschließend bewunderte Joel das Musikzimmer mit der Harfe, dem Flügel und der Aussicht auf den Garten sowie Leslies stilles, elegantes Büro. Dann führte sie ihn nach oben, damit er einen Blick in die Schlafzimmer werfen konnte. Emily hatte ihr Fenster schon wieder offengelassen.
    In ihrem eigenen Zimmer zog Joel Leslie aufs Bett. »Wir haben gerade noch Zeit«, drängte er sie, doch sie entzog sich ihm und trat ins Ankleidezimmer, um ihr Haar zu ordnen.
    »Tut mir leid, aber diese Verrückte hat sich für sieben Uhr angekündigt …« Jemand klingelte an der Tür. »Das dürfte sie schon sein. Würdest du ihr bitte aufmachen, Joel?« Als sie ihm die Treppe hinunterfolgte, hörte sie ihre eigenen Worte noch einmal. Wie konnte gerade sie als Psychologin mit Ausdrücken wie »verrückt« um sich werfen? Aber ebensowenig wollte sie das Wort zurücknehmen. Leute, die sich an Hellseher wandten, waren in ihren Augen nicht ganz dicht.
    Und wie steht es mit den Hellsehern selbst?
    Mrs. Chloe Demarest entsprach nicht im geringsten der landläufigen Vorstellung von einer gestörten Persönlichkeit. Sie war eine Frau in den Fünfzigern, beherrscht und gefaßt – eine ganz gewöhnliche Vorstadtmatrone, von oben bis unten, bis hin zu dem weißen Haar, dem sie mit einer Spülung einen adretten Blauton verliehen hatte. Nachdem sie in Leslies Büro Platz genommen hatte, brachte sie ihr Anliegen zur Sprache.
    »Sie glauben wahrscheinlich, daß ich ein bißchen durcheinander bin, weil ich mich Ihnen so aufdränge, Dr. Barnes. Aber eine Freundin hat mir erzählt, wie Sie in Sacramento die Leiche dieses armen Mädchens gefunden haben.« Unbehaglich blickte sie von Leslie zu Joel, der mit zusammengepreßten Lippen und skeptischer Miene zuhörte.
    »Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß ich Ihnen nichts versprechen kann«, erklärte Leslie ruhig.
    »Oh, ich zahle Ihnen Ihr Honorar, ganz gleich, ob Sie mir helfen können oder nicht«, versetzte die Frau rasch. Leslie spürte heißen Zorn in sich aufsteigen.
    »Honorare nehme ich nur von meinen Patienten. Wenn irgend möglich, werde ich Ihnen helfen. Aber Geld kann ich nicht annehmen. Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn. Ist er schon einmal von zu Hause weggelaufen?«
    »Nein. Kein einziges Mal. Er war so ein guter Junge; er hätte nicht gewollt, daß ich mir Sorgen mache. So etwas würde David nie tun …«, begann sie, und Leslie seufzte unhörbar. Am liebsten hätte sie der Frau das Wort abgeschnitten. Was sie erzählte, war die übliche Klage aller Mütter, die nicht die geringste Vorstellung davon hatten, was für Menschen ihre Söhne oder Töchter in Wirklichkeit waren. Sie betrachteten sie noch als Babys, wenn die Kinder schon zwanzig oder dreißig Jahre alt waren. Aber dann berichtete Mrs. Demarest etwas, das Leslie aufhorchen ließ.
    »Und selbst wenn ihm meine Meinung egal gewesen wäre, hätte er Mary so etwas niemals angetan – Mary ist seine Schwester, wissen Sie. Sie ist blind, und die beiden haben sich immer sehr nahegestanden, Vor sechs Wochen hat er seinen Hund in eine Tierpension gegeben und nicht wieder abgeholt. Er hat weder mich noch Mary angerufen und gebeten, das arme Wesen mit nach Hause zu nehmen und zu versorgen, obwohl er genau weiß, daß wir es gern getan hätten.«
    Das gab Leslie zu denken. Wenn ein junger Mann, der sich die Zeit nahm, seine blinde Schwester zu unterstützen, plötzlich sein geliebtes Haustier im Stich ließ, konnte ihm tatsächlich etwas zugestoßen sein.
    »Die Polizei hat seinen

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