Die Hüter der Schatten
Wagen gefunden. Leer«, fuhr Mrs. Demarest fort. »Das Auto war leicht beschädigt, aber nicht so schlimm, daß er bei dem Unfall ums Leben gekommen sein könnte. Und wenn, wo ist dann seine Leiche geblieben?«
»Sie haben ein Foto von Ihrem Sohn mitgebracht. Dürfte ich es einmal sehen?« fragte Leslie, ohne zu wissen warum. Aus einem stillen Winkel im Hintergrund ihres Bewußtseins beobachtete sie, wie dieser unlogische, unerklärliche Zustand ein weiteres Mal Besitz von ihr ergriff, und sie versuchte ohnmächtig, sich dagegen zu wehren. Doch sie besaß nicht die Kraft.
Sie nahm das Foto aus Mrs. Demarests Hand entgegen, und noch bevor sie es umdrehte und in das freundliche, unauffällige bebrillte Gesicht von David Demarest blickte, wußte sie, daß er noch vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gestorben war. Der Tote wirkte friedlich; sein Gesicht war unverletzt und die Brille nicht zerbrochen.
»Er ist nach Süden gefahren«, sagte sie. »Ein anderer Mann saß am Steuer. Der Mann, der ihm in den Wagen gefahren ist. Er hatte Angst, wegen Fahrerflucht belangt zu werden. Nach Süden, und dann … ja, nach Westen. Auf der Bundesstraße fünf. Ihr Sohn ist gestorben, und der Mann hat ihn aus dem Auto geworfen.«
Leslie hörte die Frau aufschluchzen, doch sie fuhr unerbittlich fort: »Setzen Sie sich mit der Polizei in Verbindung. In einer Stadt …« Sie hielt inne und versuchte, die verschwommenen Bilder zu erkennen. »Ölquellen, Bohrtürme …« Die umherschwirrenden Fragmente ihrer Vision fügten sich zusammen. »Am Meer … Bohrinseln im Wasser.« Sie erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht von Phyllis Anne Chapman und wußte, welche Stadt sie gesehen hatte. »Santa Barbara. Fragen Sie bei der Polizei in Santa Barbara nach, ob man dort einen unbekannten Toten gefunden hat.« Mit einem Mal waren die Bilder aus ihrem Bewußtsein verschwunden, und sie reichte der Mutter das Foto ihres toten Sohnes zurück. Sie fühlte sich ausgelaugt und fror. »Es tut mir leid«, sagte Leslie. »Schrecklich leid. Ich wünschte, ich hätte Ihnen eine bessere Nachricht geben können. Gibt es irgendwo Fingerabdrücke von Ihrem Sohn?«
»Nein. Er ist nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Als er ein Baby war, hat man seine Fußabdrücke genommen. Im Krankenhaus. Ob das wohl noch etwas nützt?«
Leslie hatte keine Ahnung. »Rufen Sie an. Wenn die Polizei in Santa Barbara einen unbekannten jungen Mann hat, lohnt es sich vielleicht hinzufahren, um ihn zu … identifizieren.« Im Hintergrund ihres Bewußtseins sah Leslie die Szene wie auf einem winzigen Farbbildschirm ablaufen: Die Frau zog eine Schublade in einem Leichenschauhaus heraus, stieß einen Schrei des Wiedererkennens aus und fiel in Ohnmacht. Sie würde nach Santa Barbara fahren und ihren Sohn dort finden.
Wut stieg in Leslie auf, Zorn auf den Unbekannten, den die Polizei niemals fassen würde. Er hatte den Jungen sterben lassen, um lästigen Nachforschungen zu entgehen oder einer möglichen Anklage wegen Totschlags oder rücksichtslosen Fahrens; immerhin keine Kapitalverbrechen. Er hatte seinem Opfer jegliche medizinische Hilfe versagt und die Leiche in einer fremden Stadt kaltblütig aus dem Wagen geworfen. Und dann war alles vorbei wie ein halbvergessener Traum, und Leslie wünschte sich, er würde verschwinden, nie wiederkehren und sie in Ruhe lassen. Aber sie wußte, daß dies wieder geschehen würde. Immer wieder. Resigniert sank sie auf ihren Stuhl zurück, wo ihr eben noch Mrs. Demarest gegenübergesessen hatte.
Joel suchte die Habseligkeiten der Frau zusammen und komplimentierte sie aus dem Haus. Leslie wünschte, er hätte es nicht getan. Zumindest hätte er der Frau einen Drink oder eine Tasse Kaffee anbieten sollen … ihr etwas Zeit gönnen müssen, sich nach der schrecklichen Nachricht, die Leslie ihr hatte mitteilen müssen, wieder zu fassen. Aber sie fühlte sich zu erschöpft und ausgelaugt, um zu protestieren.
»Ich habe sie hinausgeworfen«, sagte Joel, als er zurückkam. »Sag mal, was stimmte eigentlich von dem, was du ihr erzählt hast, und wieviel hast du erfunden, um sie loszuwerden?«
Die Empörung erreichte, was Leslie aus Mitgefühl nicht fertiggebracht hatte.
»Joel! Du glaubst doch wohl nicht, daß ich so etwas tun würde!«
»Bei solchen Verrückten ist alles erlaubt«, erklärte er. »Du hättest ihr sagen sollen, daß deine Gebühr tausend Dollar beträgt. Oder fünftausend. Dann wirst du solche Leute schneller los. Das
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