Die Hüter der Schatten
brauchst.«
»Weinen deine Patienten immer?« fragte Emily und kicherte schüchtern.
Leslie schmunzelte. »Als ich noch studiert habe, hat einer meiner Professoren mal gesagt, die gesamte klientenzentrierte Gesprächstherapie bestehe im Grunde nur aus einer gut plazierten Schachtel Kleenex und der Kunst, alle paar Sekunden einen mitfühlenden Laut von sich zu geben. Aber es stimmt schon … wenn Menschen versuchen, sich über ihre Gefühle klarzuwerden, kann eine Schachtel Kleenex sehr hilfreich sein.«
Emily putzte sich die Nase und nickte.
Der jähe psychische Zusammenbruch ihrer Schwester überraschte Leslie nicht einmal. Sie selbst hatte heute vormittag ähnlich empfunden; sie hatte das Gefühl gehabt, beruflich hoffnungslos in der Sackgasse zu stecken, und daran gedacht, Joel doch zu heiraten. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wo diese Zweifel sie überkommen hatten.
»Wie war das eigentlich genau, Emily? Warst du schon beim Spielen so von der Rolle, hast dann aufgehört zu üben und bist anstreichen gegangen? Oder warst du im Atelier, hast angefangen zu arbeiten und hattest erst dann das Gefühl, daß alles keinen Sinn hat?«
Emily schluckte den Bissen Keks mit Erdnußbutter hinunter, an dem sie gerade kaute. »Nee, solange ich gespielt habe, ging es mir prima. Ich hatte das Gefühl, wunderbar voranzukommen, und ich war ganz aufgeregt wegen Ansteys Meisterklasse, weil er normalerweise keine Erstsemester annimmt. Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich den Anstrich nicht beendet hatte. Ich hatte Angst, die Rollen und die Farbtöpfe könnten eintrocknen. Also bin ich in die Garage gegangen, um die Sache zu erledigen, und bei der Arbeit hatte ich plötzlich dieses scheußliche Gefühl, ich hätte mir selbst etwas vorgemacht. Es kam mir vor, als wäre ich völlig ausgebrannt, als würde ich nur meine Zeit verschwenden und würde niemals wirklich zu etwas nütze sein …«
Es war höchste Zeit, daß sie dieser Sache gemeinsam ins Auge sahen. »Ich war heute morgen auch eine Zeitlang allein im Atelier. Irgendwann habe ich so ziemlich das gleiche über meinen Beruf empfunden … daß alles reine Zeitverschwendung sei, daß ich sowieso niemandem helfen könne und mein ganzes Leben vergeudet hätte …«
Emily riß die Augen auf. »Und Frodo hat erzählt, die Frau, die vor uns hier gewohnt hat – Betty irgendwas –, sei von hier vertrieben worden. Sie hat behauptet, im Atelier spüre sie eine Präsenz, die sie hasse … und besonders ihre Kunst! Dann waren meine Sorgen wegen meiner Musik … und deine wegen deines Berufs …« Sie hielt inne, um darüber nachzudenken. »Leslie! Wenn es hier wirklich spukt, glaubst du, das könnte Miss Margrave sein? Sie war Musikerin – ob sie vielleicht eifersüchtig ist, weil ich noch spielen kann und sie nicht?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Leslie. Im Musikzimmer oder in der Diele hatte sie mehrmals den fernen Klang eines Cembalos vernommen. Und ihr Büro war ein Hort des Friedens und der Ruhe. »Hast du anderswo in diesem Haus schon mal etwas Ähnliches verspürt? Im Musikzimmer vielleicht?«
Emily schüttelte den Kopf. »Nein, niemals! Wenn ich spiele, habe ich das Gefühl …«, sie lächelte verlegen, »… daß die alte Frau sich freut, mich dort zu sehen. Wie Dr. Anstey sagte. Einmal habe ich sogar geglaubt, eine Sekunde lang ein Cembalo zu hören«, gestand sie. »Wie ein entferntes Echo. Aber das habe ich mir wahrscheinlich nur eingebildet.«
»Ich habe es ebenfalls gehört«, versicherte ihr Leslie. »Aber was immer das sein mag, es handelt sich um zwei verschiedene Phänomene. Vom ersten Tag an hatte ich das Gefühl, im Atelier …« Leslie zögerte, schreckte davor zurück, das Wort auszusprechen, das ihnen beiden auf der Zunge lag. In den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts brachte man so etwas kaum über die Lippen. »Dort spukt es.«
»Was sollen wir jetzt unternehmen, Leslie? Die Garage abschließen und nie wieder versuchen, sie zu betreten?«
»Als wir beide heute morgen mit Frodo dort drinnen standen, war alles in Ordnung«, erinnerte Leslie ihre Schwester, und Emily nickte. »Ja. Und auch nachdem du fort warst, haben Frodo und ich uns prima unterhalten. Vielleicht schlägt dieses … Etwas nur zu, wenn man sich allein in diesem Raum aufhält.«
»Schon möglich«, meinte Leslie. »Also gut, wir richten das Atelier als Partyraum ein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses … Etwas eine Gruppe von
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