Die Hüter der Schatten
Hand trug Anstey einen schwarzen Handschuh.
»Ihre Schwester besucht meine Klasse«, erklärte er, »und ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gewechselt.«
Leslie bat ihn herein. »Soll ich Emily rufen?« Die Klänge eines Präludiums von Bach erfüllten die Diele, und Anstey lächelte.
»Noch nicht, bitte. Ich habe dieses Haus einmal gut gekannt und muß gestehen, daß ich neugierig darauf bin, was Sie daraus gemacht haben.« Ein leises Lächeln umspielte seine schmalen, asketisch wirkenden Lippen. »Mir ist durchaus bewußt, daß Sie die Schlösser haben austauschen lassen. Ich gestehe, daß ich meinen Schlüssel behalten und ein-, zweimal benutzt habe, ehe das Haus wieder regelmäßig bewohnt wurde. Ich hatte den Eindruck, damit niemandem zu schaden.«
Leslie hatte das Gefühl, daß er versuchte, sie um den Finger zu wickeln. »Das Musikzimmer sollte Emily Ihnen selbst zeigen, sobald sie zu Ende geübt hat. Aber Sie dürfen sich gern die Küche und meine Praxis ansehen. Die Schallisolierung hat sich als hilfreich für die Arbeit mit meinen Patienten erwiesen.« Sie führte Anstey hinein, und er nickte anerkennend.
»Sie haben in diesem Zimmer eine sehr friedliche Atmosphäre geschaffen«, bemerkte er. »Sie sind keine Medizinerin, sagten Sie? Dies kommt mir auch nicht vor wie das Sprechzimmer eines Arztes …«
Leslie schüttelte den Kopf. »Klinische Psychologie.«
»Ich hoffe, keine Freudianerin. Alison hielt überhaupt nichts von dieser Richtung. Sie hatte Dr. Freud und einige seiner Schüler noch kennengelernt und war nicht besonders beeindruckt.« Anstey lächelte verschmitzt.
Leslie schmunzelte ebenfalls. »Nein. Ich bin keine Freud-Jüngerin. Eher das Gegenteil.«
Emily kam in die Diele gelaufen. »Les, hat es nicht eben an der Tür geklingelt …« Verblüfft und erschrocken unterbrach sie sich. »Dr. Anstey!«
Weltmännisch lächelnd verbeugte sich der Musiker.
»Ihre Schwester war so freundlich, mir ihre Praxis zu zeigen. Ich mußte daran denken, wie es dort aussah, als Alison noch lebte. Dort stand ihr schönstes Cembalo, ein Museumsstück aus dem sechzehnten Jahrhundert. Venezianisch, mit Lack und Gold überzogen. Heute befindet es sich im Metropolitan Museum. Die übrigen kostbaren Stücke hat Alison dem Smithsonian und der Juilliard School of Music hinterlassen, wo sie studiert hat. Die anderen Instrumente, die tatsächlich spielbar waren, standen zusammen mit ihrem Flügel im Zimmer auf der anderen Seite der Diele. Dürfte ich mir das Musikzimmer wohl einmal ansehen?«
Emily warf ihrer Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu; dann führte sie Simon durch den Flur.
»Ah, Sie haben einen Knabe. Alisons Flügel war ein Bechstein«, erklärte Anstey. »Aber der Knabe ist auch ein ausgezeichnetes Instrument. Und diese Harfe ist beinahe ein Museumsstück. Spielen Sie auch Harfe?«
»Ein wenig.«
»Im Unterricht erwähnten Sie einmal, daß Sie sich für das Cembalo interessieren, Miss Barnes … darf ich Emily sagen? Alison hat mir die übrigen sechs Cembalos hinterlassen. Ich würde Ihnen gern das kleinste leihen, damit Sie ausprobieren können, wie Ihnen dieses Instrument gefällt. Außerdem wäre es ein Verbrechen, alle sechs Cembalos einzulagern, ohne daß jemand sie spielt.« Leslie sah, wie seine schwarzbehandschuhte linke Hand zuckte, und fragte sich, ob seine Behinderung wirklich unheilbar war. Was für eine Tragödie für einen Musiker! »Ich habe einem anderen Freund eines der Cembalos angeboten, aber ich glaube, er war abergläubisch – wahrscheinlich fürchtete er, mein Pech könnte auf ihn abfärben.«
»Dr. Anstey …« Leslie sah, daß ihre Schwester fast sprachlos vor Freude war. Doch Emily zögerte noch. »Wenn etwas passiert … ich hätte wirklich Angst, diese Verantwortung zu übernehmen …«
»Die Instrumente sind versichert. Ich muß ohnehin ein Vermögen für die Policen hinblättern, ganz gleich wo die Instrumente stehen«, meinte Anstey fast gleichgültig. »Alle eventuellen Schäden durch Feuer oder – Gott behüte – Einbruch oder Vandalismus sind abgedeckt. Ich weiß, daß Sie das Cembalo hüten werden, als wäre es ihr eigenes, und mehr kann ich nicht verlangen. Wenn Instrumente sogar im verschlossenen Orchestersaal eines Konservatoriums nicht sicher sind, dann bezweifle ich, daß selbst ein Erzengel sie schützen könnte. Also, wenn Sie es damit versuchen wollen …«
»Oh, Dr. Anstey, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … ich … bin wirklich
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