Die Hüter der Schatten
ist mein voller Ernst, Leslie. Wenn sich erst einmal herumspricht, daß du so was umsonst tust, lassen sie dich nie in Ruhe. Und so mies, wie du jetzt aussiehst, kannst du dir so was nicht allzuoft erlauben.«
Doch Leslies Kraft kehrte rasch zurück. Sie erinnerte sich, daß sie sich damals genauso gefühlt hatte – in dem Polizeiwagen in der Nähe des Abwasserkanals, in dem ein totes Mädchen lag.
»Ich mußte der Frau einfach sagen, was ich gesehen habe. Dafür Geld zu nehmen wäre nicht richtig. Es … es kommt einfach über mich. Und kostet mich ja nichts.«
»Bis auf deine Zeit und Kraft. Du solltest dich sehen, Leslie. Diese Anstrengung ist jeden Preis wert, den du dafür verlangen kannst.«
Leslie holte tief Luft. »Wenn ich keine andere Möglichkeit sähe, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, müßte ich das wohl, Joel. Aber dem ist nicht so. Und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden.«
»Soll mir recht sein«, gab er zurück, innerlich kochend vor Zorn. »Ich wäre glücklich, nie wieder davon zu hören. Warum läßt du immer wieder zu, daß dieser Mist passiert?«
Weil ich nichts dagegen tun kann. Weil ich bin, was ich bin. Weil es einen Grund haben muß, daß ich diese Gabe entwickelt habe. Aber nichts davon sagte sie laut. »Warum beunruhigt es dich so, Joel?« fragte sie statt dessen.
»Ich bin Anwalt«, erklärte er. »Ich sehe genug schlimme Dinge, die geschehen, wenn die Leute nicht ihren Verstand benutzen, sondern dem Irrationalen nachgeben und sich von ihren Emotionen leiten lassen. Gier. Aberglaube. Religion. Angst. Und Menschen wie du und ich dürfen nachher die Trümmer aufsammeln. Wie sollen wir das fertigbringen, wenn wir zulassen, daß dieser … dieser altmodische Müll alles überwuchert? Verdammt noch mal, Les. Ich glaube an die Logik. Eine andere Religion besitze ich nicht. Ich kann mit diesem Zeug nichts anfangen.«
Und was ist mit mir? Ich werde auch nicht damit fertig, und trotzdem muß ich mich mit dieser Sache auseinandersetzen. Und du, Joel, bist mir dabei nicht gerade eine Hilfe.
»Aber es ist alles wahr, Joel. Du glaubst doch nicht etwa, ich erfinde das nur, oder?«
»O Gott, Leslie, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll«, gestand er.
»Da sind wir schon zu zweit«, meinte sie und hörte, wie bitter ihre Stimme klang.
»Hast du was zu trinken?«
»In der Küche steht eine Flasche Scotch.«
Joel holte den Whisky und schenkte zwei doppelstöckige Drinks ein. Er leerte sein Glas in einem Zug, doch Leslie schüttelte den Kopf, als er ihr das Glas reichte. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, daß es gefährlich war. Der Alkohol würde ihren Geist den unbekannten Mächten des Unsichtbaren öffnen, die dieses Mal bedenklich nahe an sie herangerückt waren.
»Trink, Les.«
»Ich kann nicht. Ich verliere auch so fast schon die Kontrolle.« Als Joel sie ärgerlich anschaute, fügte sie hinzu: »Glaubst du nicht, ich würde mich lieber betrinken und das alles vergessen …« Mit einer hilflosen Handbewegung verstummte sie.
»Les, ich habe Angst um dich«, erklärte Joel. »Einer unserer Seniorpartner in der Kanzlei, Carmody, glaubt auch an solchen Unsinn. Er wollte heute abend zu irgendeiner merkwürdigen Seance. Deshalb habe ich den Nachtdienst für ihn übernommen.« Joel verzog das Gesicht. »Diese Sitzung ist in einem okkulten Buchladen hier in der Stadt. Nicht schlecht, was? Der Seniorpartner verdrückt sich, und ich habe die Chance, einzuspringen und den Job zu übernehmen. Aber dann begegnet mir hier derselbe Quatsch …«
Leslie hörte wieder Emilys Worte: Rainbow hat mich zu einer Veranstaltung im Buchladen eingeladen. Zufall? Nein, das alles geschieht aus einem bestimmten Grund, sagte sie sich …
Am nächsten Morgen stellte sie Emily zur Rede, ehe ihre Schwester selbst davon erzählen konnte.
»Wie war die Seance?«
Beinahe schuldbewußt zuckte Emily zusammen. »Woher weißt du das?«
»Ich kann Gedanken lesen«, versetzte Leslie trocken. Erst im nachhinein wurde ihr klar, daß ihre Worte nicht nach einem Scherz geklungen hatten. »Nein, Joel hat mir davon erzählt. War es interessant?«
»Es ging so. Die Frau, von der Rainbow gesprochen hat, war auch da – Claire. Sie ist nett. Claire sagt, sie hätte dich mal im Buchladen getroffen. Sie hofft, daß du bald einmal vorbeikommst. Eines der Medien war Mrs. Carmody, die Schwester der Frau, die früher hier gewohnt hat. Sie hatte eine Nachricht von Grandma für mich: Sie freut sich,
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