Die Hüter der Schatten
Büro.
Hinter sich, aus der Küche, vernahm sie Gelächter. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß Simon sich hier ebenso zu Hause fühlte wie sie selbst. Vielleicht sogar noch mehr.
Drei Tage später rief Simon an und teilte mit, das Cembalo könne jetzt geliefert werden. Ob er wohl vorbeikommen und das Aufstellen beaufsichtigen könne? Kurz darauf schaute er zu, wie die Männer das Instrument ins Haus trugen und auspackten. Während des Aufbaus inspizierte er das Cembalo peinlich genau. Dann streifte er sein Jackett ab und begann es zu stimmen. Den schwarzen Handschuh zog er dabei nicht aus, berührte aber all die winzigen Kiele und Hämmerchen beinahe so geschickt wie mit bloßen Fingern.
»Das wird ziemlich lange dauern«, bemerkte er. »Fühlen Sie sich nicht verpflichtet zu bleiben, Leslie.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, lasse ich Sie allein«, entgegnete Leslie. »Aber würde es Sie stören, wenn ich zusehe?«
»Ganz und gar nicht.«
Leslie setzte sich auf den Harfenschemel und schaute schweigend zu. Simons gesunde Hand war fein ausgebildet, kräftig und sehnig. Leslie war mit dem Mythos großgeworden, »Musikerhände« seien lang, schmal und zart, aber inzwischen wußte sie es besser. Die Hände eines Pianisten waren so muskulös wie die eines Leistungssportlers. Nach einiger Zeit zog Simon den Handschuh aus und schleuderte ihn ungeduldig beiseite. Er hob den Kopf und sah, daß Leslie ihn beobachtete. »Der Handschuh ist an der Außenkante mit einer Schiene verstärkt«, erklärte er kurz angebunden. »Sie stört mich, wenn ich die Feinarbeit mache.« Ohne die Stütze krümmte seine Linke sich so stark zusammen, daß der kleine Finger und der Ringfinger die Handfläche berührten. Doch wie Leslie bemerkte, konnte er die Hand ausstrecken, wenn er sich bemühte. Ohne den Handschuh ging das Stimmen rascher vonstatten. Nach einer knappen Stunde war Simon zufrieden.
»Das Cembalo ist wohl sehr alt?« fragte Leslie.
Er schüttelte den Kopf. Das Instrument war etwa halb so groß wie ein Flügel und besaß zwei versetzt übereinander angebrachte Manuale. Der Korpus bestand aus einem glatten, schimmernden Holz, das auf Hochglanz poliert war.
»Das hier wurde zu Anfang des Jahrhunderts gebaut«, erklärte Simon, »in Österreich, glaube ich. Für ein Cembalo ist es nicht besonders kostbar, aber es besitzt einen sehr angenehmen Klang.« Er zog die Klavierbank herüber, setzte sich an das Instrument und begann, ein Menuett von Mozart zu spielen.
»Ich glaube, da kommt Emily«, sagte Leslie, und Simon hielt inne und trat ans Fenster. Emily kletterte aus Frodos klapprigem Lieferwagen und verabschiedete sich mit einer beiläufigen Umarmung von dem jungen Mann. Auf Simons Miene sah Leslie jenen verbissenen Ausdruck, den sie schon einmal über sein Gesicht hatte huschen sehen. War das Zorn, oder litt er unter Schmerzen? Wahrscheinlich hast du es dir nur eingebildet, sagte sie sich, als Emily die Treppe hinaufgerannt kam.
»Leslie?« rief Emily, doch es war Simon, der ihr antwortete.
»Wir sind hier drinnen, Emily. Ich habe eine Überraschung für Sie.«
Das junge Mädchen trat durch die Tür. Ein Strahlen legte sich auf ihr Gesicht, als wäre hinter ihren Augen plötzlich die Sonne aufgegangen, und verzückt rief sie: »Oh … oh, Dr. Anstey … Simon!«
»Das Instrument scheint sich hier wohlzufühlen«, erklärte Simon feierlich. »Ich hoffe, es bereitet Ihnen viel Freude. Alison würde sich ebenfalls freuen, da bin ich mir sicher. Ich habe mir die Freiheit genommen, das Cembalo an seinen alten Platz zu stellen.«
»Oh …« Noch immer brachte Emily kaum einen Laut hervor. Sie stand da und starrte das Instrument überwältigt an.
»Wollen Sie es nicht ausprobieren?« fragte Simon.
Emily holte tief Luft, trat an das Cembalo heran und schaute dann auf ihre schmutzverschmierten Finger. »Laßt mich schnell meine Hände waschen! Frodo und ich haben im Garten gegraben.« Sie rannte in die Küche, und Leslie hörte Wasser rauschen.
»Diese Miene allein war die Sache schon wert«, bemerkte Simon leise. »Was für ein reizendes Mädchen. Sie strahlt geradezu von innen. Genau das – und nicht das reine technische Können – ist das Kennzeichen des wahren Künstlers.«
Mit blitzsauberen Händen kehrte Emily zurück; ein merkwürdiger Gegensatz zu ihren schmutzigen Jeans und dem zerknitterten Sweatshirt. Flüchtig dachte Leslie, daß sie ihre Schwester noch nie zerzaust gesehen hatte. Ob sie
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