Die Hüter der Schatten
sprachlos.« Emily plapperte wie ein Kind.
»Erlauben Sie mir, das Instrument im Lauf der Woche anliefern zu lassen«, entgegnete Anstey. »Betrachten wir es als Dauerleihgabe. Ich bin froh, es in liebevollen Händen zu wissen, wenn ich wieder ins Ausland reise. Und wenn ich darf, würde ich gern einmal hören, wie Sie darauf spielen. In diesem Raum habe ich viele der glücklichsten Stunden meines Lebens verbracht. Meine Mutter war eine alte Freundin von Alison, und Alison hat mich eher mit dem Cembalo bekannt gemacht als mit dem Klavier. Ich glaube, sie hat sich nie von der Enttäuschung erholt, daß mir das Cembalo weniger lag.« Er nahm vor den Tasten Platz. »Gestatten Sie, Emily?«
»Oh, bitte … ich wußte ja nicht …«
»Daß ich noch spielen kann?«
»Ich hatte gehört …« Emily hielt inne. Alles was sie dazu sagen konnte, würde taktlos klingen.
Lächelnd sah Anstey zu ihr auf. »Ich spiele auch nicht mehr – jedenfalls nicht vor einem Konzertpublikum, obwohl einem unvoreingenommenen Zuhörer wahrscheinlich nichts auffallen würde. Aber ich selbst weiß es. Wie soll ich mich ausdrücken …? Der Rennfahrer Sterling Moss schreibt in seinem Buch, nach seiner Kopfverletzung könne er zwar fahren, aber er müsse dabei denken. Das Lenken sei kein Reflex mehr, keine perfekte Symbiose zwischen ihm und dem Wagen. Ich möchte nicht, daß die Kritiker mir Zugeständnisse machen. Ich wünsche weder ihr Mitleid noch ihre Herablassung. Meine beiden Filmrollen haben mich reich gemacht, deshalb bin ich nicht darauf angewiesen. Und noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, daß ich eines Tages – mit Glück, festem Willen und vielleicht der Unterstützung der medizinischen und anderer Zünfte – auf die Bühne zurückkehren werde.« Von seinen zusammengepreßten Lippen las Leslie Zorn und Entschlossenheit ab. »Setzen Sie sich her, Emily. Es wäre mir ein Vergnügen, für Sie zu spielen.«
Das junge Mädchen nahm neben ihm auf der Klavierbank Platz. Langsam zog Anstey den Handschuh aus. Die Finger sahen weißer aus als an seiner Rechten, und der Handrücken war kreuz und quer mit Linien und Narben übersät.
»Ein medizinisches Wunder«, erklärte er gleichmütig. »Ein Fingerglied war sogar vollständig abgetrennt worden. Zum Glück hat man es gefunden.«
Er hat sich uns in seiner ganzen Verletzlichkeit gezeigt, dachte Leslie und überlegte, was dahinterstecken mochte. Anstey begann zu spielen: Die ersten acht Akkorde des Rachmaninow-Konzerts, das Emily so lange studiert hatte, erklangen und steigerten sich von einem zärtlichen pianissimo zu einem furiosen fortissimo. Leslie hatte das Gefühl, das Konzert zum erstenmal zu hören. Als Anstey den ersten Satz beendete, liefen Emily die Tränen über die Wangen.
Reglos saß er vor den Tasten und zog langsam den Handschuh wieder über die Finger. Abrupt unterbrach er sich dabei, beugte sich leicht vor und legte die Finger seiner gesunden Hand über die Augen. Leslie sah, wie er die Zähne zusammenbiß und die Finger zuckten. Sie hörte ihn tief Luft holen und erkannte, daß er heftige Schmerzen litt.
»Dr. Anstey …«
»Manchmal spüre ich Stiche im Auge«, sagte er und stieß den Atem aus.
»Ich hoffe, Sie haben sich nicht zu sehr ermüdet«, sagte Emily.
Anstey legte dem Mädchen lächelnd die Hand auf die Schulter. »Nein, mein Kind. Es war mir ein Vergnügen. Dürfte ich vielleicht einen Blick in den Garten werfen?«
Emily lud Anstey zum Abendessen ein und vernahm erfreut sein Geständnis, er sei Vegetarier. Leslie mußte sich um einen Patienten kümmern und überließ den Gast ihrer Schwester.
Auch Leslie hatte sich der Faszination, die Anstey ausstrahlte, nicht entziehen können. Doch als sie jetzt allein war, wurde ihr klar, daß der ältere Mann sich ihnen aus einem unbekannten Grund aufgedrängt hatte. Sie ermahnte sich, nicht kleinlich zu sein, denn sie wußte nur zu gut, daß ein Konzertmusiker ein einsames Leben führte. Da mochte die Freundschaft zu einer sympathischen Schülerin nicht das Schlechteste sein, selbst wenn Simon Anstey dreimal so alt war wie Emily (denn Simon, wie die Schwestern ihn nennen sollten, war bestimmt schon über fünfzig). Vor allem, wenn diese in einem Haus lebte, dessen frühere Besitzerin ihn einmal fast wie einen Sohn geliebt hatte.
Emily führte ihn in die Küche. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Simon.
»Sie könnten die Gurken hier schälen«, antwortete Emily, die sich selbst ein paar Tomaten
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