Die Hüter der Schatten
daß ich auf ihrer Harfe spiele, und ich soll mir ein Cembalo zulegen.«
»Aha. Das sind ja sensationelle Offenbarungen. Kam von der anderen Seite auch was Interessantes?« Leslie wußte, daß sie barsch und ironisch klang.
»Nein. Eigentlich nicht. Noch ein paar Botschaften für andere Leute. Weißt du, Mrs. Carmody kam mir aufrichtig vor, aber was sie sagte, hätte auf jeden gepaßt. Zum Beispiel riet ein Verstorbener seiner Frau über das Medium, sie solle ihrem Anwalt nicht trauen.«
Carmody ist Anwalt und seine Frau Medium. Natürlich. Ich wette, das Medium wird der Frau nur zu gern eine gute Kanzlei empfehlen. Zum Beispiel Manchester, Arnes und Carmody … »War keine Botschaft für mich dabei? Von Mrs. Carmodys Schwester vielleicht, die mich warnt, wie gefährlich dieses Haus ist?«
Emily starrte sie verblüfft an. »Nein. Ihre Schwester ist ja nicht tot. Sie lebt in San Jose. Aber dann wurde die Sache wirklich interessant. Das nächste Medium war eine merkwürdige fette, widerliche Frau mit rotgefärbten Haaren. Wir saßen im Dunklen und hielten uns an den Händen … und dann geschah es. Ich habe mich richtig gegruselt. Überall schwebte Ektoplasma … grünlich, schaurig. Das Zeug tropfte überall, und ich saß da und hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut. Aber dann hat der Freund von Claire – Colin hieß er, ein sehr netter alter Mann – Licht gemacht, und da saß das Medium mit einem Bambusstab, den sie sich an den Zeh gebunden hatte und mit dem sie das Ganze umherschwenkte. Das Ektoplasma war in Wirklichkeit dünner Stoff, der mit phosphoreszierender Farbe überzogen war. Wir haben sie alle ausgelacht. Mir tat die arme Frau leid. Sie hat geweint und behauptet, die Menschen wollten so etwas sehen, und daß es ihre religiöse Pflicht sei, die Leute davon zu überzeugen, daß solche Phänomene real sind, weil die Menschen sich Zeichen und Wunder wünschen. Gibt es auch echte Medien, Les, oder sind sie alle Schwindler? Mrs. Carmody kam mir nicht wie eine Betrügerin vor, nur ein bißchen dumm. Und die andere, die Hochstaplerin …«
»Ich weiß es nicht, Emily«, antwortete Leslie und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Vielleicht verhält es sich wie mit dem Geist der Katze. Selbst wenn man die Erscheinung selbst sieht, traut man nach einer Weile seinen eigenen Sinnen nicht mehr.« Heute morgen zum Beispiel konnte Leslie sich nur noch schwach, wie aus einem Traum an die felsenfeste Überzeugung erinnern, mit der sie Chloe Demarest zur Polizei in Santa Barbara geschickt hatte, um ihren vermißten Sohn zu finden. Sie wußte, daß sie Gefahr lief, einen obsessiven Drang nach Bestätigung zu entwickeln, und sei es nur, um sich ihres eigenen Verstandes zu versichern. Würde es eines Tages so weit kommen, daß sie sichtbare Beweise produzierte wie das unbekannte Medium? Sie glaubte es nicht. Aber was würde dieses Leben am Rand des Unerklärlichen noch aus ihr machen?
»Keine Nachricht von Alison Margrave?« meinte sie leichthin. »Hat sie dir nicht mitgeteilt, wie glücklich sie ist, daß wir in ihrem Haus leben?«
»Nein«, antwortete Emily. »Mrs. Carmody hat sie zu erreichen versucht, aber sie hat sich nicht gemeldet.«
»Sehr vernünftig«, bemerkte Leslie. Wenn die Persönlichkeit den Tod überdauerte, hatte der Geist ganz bestimmt Besseres zu tun, als Seancen aufzusuchen, dessen war sie sich sicher.
Die Tage vergingen, und allmählich kam Leslie zur Ruhe. Das Irreale meldete sich nicht wieder. Ab und zu roch sie den gespenstischen Weihrauch auf der Treppe, und die weiße Katze strich weiter durch den Garten. Sie stellte Katzenfutter oder Thunfisch nach draußen; manchmal blieb das Futter unberührt, doch gelegentlich war es am Morgen verschwunden.
Emily beklagte sich immer noch, ihr Fenster öffne sich von allein. Aber sie war so beschäftigt mit Simon Ansteys Meisterklasse, daß sie kaum mitbekam, was auf der alltäglichen Ebene vor sich ging. Eines Abends teilte sie ihrer Schwester beiläufig mit, sie werde bei einer Freundin übernachten. Leslie hegte den Verdacht, daß diese Freundin Frodo hieß, hakte aber nicht nach. Emily war jetzt erwachsen und hatte ein Recht auf Privatsphäre.
Ende Juni klingelte es eines Nachmittags an der Tür. Leslie öffnete und sah Simon Anstey auf der Schwelle stehen.
»Dr. Barnes?«
Sie blinzelte verblüfft und begrüßte ihn. Ein freundliches Lächeln legte sich auf sein narbiges Gesicht. Das eine Auge schaute sie aufmerksam an, und an der linken
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