Die Hüter der Unterwelt - Die Seele der Schlange (German Edition)
die Gurgel sprang, wenn sie für die kleinen Kinder sang und ihr alsbald das ganze Dorf lauschte.
„Warum?“, wisperte sie zerrissen, wirbelte herum und stürmte aus der Hütte. Sie musste fort, wenn ihr Vater sie nicht hören durfte. Sie wollte ihre Trauer und ihren hilflosen Zorn in den Wind schreien.
Ihre Füße berührten kaum den Boden, als sie über den Bach hinwegsprang und durch den dichten Blätterwall des Waldrandes brach. Zweige und hellgrüne Flechten peitschen ihr ins Gesicht, verfingen sich in ihrem Haar, doch sie spürte es kaum.
Wie konnte ihr Leben, alles an das sie immer geglaubt hatte, in so wenigen Momenten zerbrechen wie feinstes Glas?
Nox Hufschläge raschelten hinter ihr im Unterholz und schon bald sah sie seinen nachtschwarzen Rücken direkt an ihrer Seite. Niemals würde der Rappe sie allein lassen.
"Mein treuer Freund!" Stürmisch vergrub sie die Finger in seiner wallenden Mähne, spannte die Muskeln an und sprang. Der Schwung ließ ihre Hüfte gegen seine Flanke schlagen, bevor sie ein Bein geschickt über den Sattel schwang.
Schon jagte der Hengst in vollem, unbändigem Galopp durch die Schatten der Abenddämmerung.
Catharina nahm die Zügel auf und wendete Nox instinktiv gen Norden.
„Zu den Klippen, kleiner Schatten“, flüsterte sie ihm zu. „Auf dass mir nur die Wellen lauschen können!“
Sie folgten dem leisen Tosen der Brandung, dem Schrei der Möwen und dem zarten Geschmack nach Salz in ihren Lungen.
Bald schon schwand die Dichte des finsteren Waldes. Nur vereinzelte, zähe Eschen krallten ihre Wurzeln zwischen mattgrauen Fels und tanzende Gräser. Einige Fuchslängen von den Klippen entfernt glitt sie von Nox´ Rücken und lief dem Sonnenuntergang entgegen. Die glühendrote Scheibe schien im unendlichen Nachtblau des Meeres zu versinken.
Sie kauerte sich an den glatten Rand der Klippe, furchtlos, spottete der Tiefe und dem tosenden, wilden Meer. Vielleicht könnte sie fallen, vielleicht würden die Wellen sie an scharfkantigen Felsen zerschmettern. Doch was zählte das, für diesen Augenblick?
"Warum?"
Catharina sah hinaus auf die lockende See und die kreisenden Möwen selbst schienen ihre Frage herauszuschreien.
Unerschrocken breitete sie die Arme aus, fühlte die Federn knisternd in der Brise tanzen und ließ dem Ruf ihrer Seele endlich freien Lauf.
Feurig glitt die Melodie über ihre Zunge. Verzweiflung, Liebe, und widerspenstige Wut zugleich. Die Töne klangen zu süß und endlos, um Worte zu bilden, nur Catharinas Innerstes erkannte die fremde Sprache, obgleich sie nicht wusste, woher.
So glich ihre Stimme einer Kraft, die sie umfing, die mit ihr tanzte, sie beherrschte und doch fügsam war, wie ein wildes Pferd, das seine Herrin über alles liebt.
Die Möwen und auch die Vögel des Waldes verstummten voller Ehrfurcht, die Welt um sie herum schien den Atem anzuhalten. Catharina sang, bis sich der samtene Mantel der Nacht über sie legte und sie Nox´ warme Nüstern in ihrem Haar spürte.
Erst dann schwieg sie und ließ die Beine über den Klippenrand baumeln, kosend die Stirn ihres liebsten Rappen streichelte.
Doch plötzlich wirbelte der Hengst in einer Wolke braunen Staubes herum und schnaubte drohend. Seine bebenden Flanken aber vermochte die Angst nicht vor ihr zu verbergen.
Sie rappelte sich katzenschnell auf und ließ ihre Blicke ruhelos über den dunklen Waldrand schweifen.
„Kleiner Wolf, siehst du mich, tanz´ mit mir im Mondeslicht.“
Sie zuckte zusammen, ein kalter Schauer rann ihren Rücken hinab, als sie den spöttischen Singsang vernahm.
„Wer bist du?“ Sie kämpfte darum, ihre Worte stark und furchtlos klingen zu lassen, obgleich ihr Herz im Takt einen ängstlichen Kolibris schlug. „Zeig dich!“
Sie tastete nach ihrem schmalen Dolch und zog ihn lautlos aus der verborgenen Scheide unter ihrem Gürtel. Ein zischelndes Lachen erklang. „Wahrlich, überspringen wir die Höflichkeiten und greifen sogleich zum Gemüsemesser! Euer Charme beeindruckt mich, kleine Sünde.“
Smaragdgrüne Schlangenaugen blitzten in den Schatten auf …
Die Viper
Ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen glitt die Gestalt aus der Dunkelheit und offenbarte eindeutig menschliche Konturen.
Silbergraues Haar schimmerte geisterhaft im Mondlicht, doch das Gesicht des Fremden war nicht das eines alten Mannes. Im Gegenteil. Die feingemeißelten Züge glichen den marmornen Engeln in der dörflichen Kirche - zu schön, um wirklich
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