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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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trafen, wie in Turvite und Carlion … Ihre Gedanken gerieten ins Stocken, als sie sich an den Tag erinnerte, an dem Maryrose und Merrick ihr zeigten, wo Merricks Mutter, die Stadtdirektorin von Carlion, arbeitete. Es war eine Amtsstube auf der Rückseite der Versammlungshalle gewesen. Maryrose war an jenem Tag so glücklich gewesen, zwei Tage vor ihrer Hochzeit … Das Schlimmste daran, im Körper eines anderen zu leben, war die Tatsache, dass man nicht weinen konnte, wenn man es gemusst hätte.
    Nachdem die Perspektive ständig von einem Augenpaar zum nächsten gewechselt hatte, schaute Bramble schließlich aus den Augen eines auf dem Sims stehenden Mannes. Vermutlich war es einer der Stammesführer. Es war ein älterer Mann, aber sein Körper fühlte sich nach wie vor stark an, und er hatte scharfe Augen. Er konnte sogar noch die Feder, die sich ein Mann in der allerletzten Gruppe auf dem Sims des Kraters an den Hut gesteckt hatte, sehen. Er würde einen guten Bogenschützen abgeben, dachte Bramble.
    Die ganze Zeit über hatte sie nichts hören können, nun jedoch schärfte sich ihr Gehör, und sie konnte verstehen, was
gesprochen wurde. Momentan redete der älteste Mann, der auf dem Sims stand. Sein langer Bart war durchzogen mit grauen Strähnen. Er hielt einen Stock in der Hand, an dessen Knauf Adlerfedern befestigt worden waren.
    »Spricht der Jüngling Acton mit der Stimme seines Stammesführers Harald?« Obwohl er alt war, konnten auch noch die in der letzten Reihe der Versammlung Stehenden seine Stimme deutlich vernehmen.
    Harald stand hinter Acton. Als die Frage ausgesprochen wurde, trat er vor und drängte Acton dabei beiseite. Der alte Mann übergab ihm den Stock.
    »Das tut er nicht!«, verkündete Harald. Ein Raunen ging durch die Menge. Harald gab dem alten Mann den Stock zurück.
    »Dann kann Acton, Sohn von Asa, nicht angehört werden.«
    Bramble sah, wie Acton mit versteinerter Miene dastand. Er war nicht überrascht, denn er hatte sich auf diese Situation vorbereitet.
    »Also, Oddi, wirst du deine Leute eher sterben lassen, als mir das Recht zu reden zu erteilen?«, fragte er laut.
    Die Menge und auch die Männer auf dem Sims brachen in Gebrüll aus, wobei einige riefen: »Lasst ihn sprechen!«, während es ihm andere als Schande auslegten, ohne den Stab in der Hand das Wort erhoben zu haben. Bramble spürte, wie sich der Herzschlag ihres Stammesführers beschleunigte, doch er blieb stumm.
    Der alte Mann hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen, und ihr Stammesführer schaute angespannt auf.
    »Es ist wahr, dass diese Zeiten verzweifelt sind«, sagte er. »Aber sollten wir deshalb die Regeln unserer Vorfahren brechen, laufen wir Gefahr, Männer ohne Ehre zu werden, ohne Bindungen, ohne Land, so wie unsere Feinde es sind.«

    Bramble spürte, wie sich ihr Stammesführer räusperte.
    »Swef?«, fragte der alte Mann.
    Swef trat vor. Er trug Stiefel aus leuchtend rotem Leder. Sie kannte dieses Leder - es stammte von den Händlern aus den Wind Cities und war sogar zu ihrer Zeit noch kostspielig. Er nahm den Stock. »Acton. Ich kenne den Inhalt von dem, was du hier sagen willst, und deswegen darf der Jüngling Acton mit meiner Stimme sprechen, wenn es ihm beliebt.«
    Schweigen breitete sich über die Versammlung aus. Bramble begriff, dass dies mehr als nur eine Umgehung der Regeln war. Wenn sie es recht verstand, trug Swef Acton an, seine Treuepflicht von seinem Großvater auf ihn zu übertragen, um im Gegenzug das Recht zu erhalten, sprechen zu dürfen.
    Acton wandte sich Harald zu. »Großvater …«, sagte er flehentlich. Harald hielt seinen Blick starr von ihm abgewandt und verschränkte die Arme. Acton schluckte heftig. Dann holte er tief Luft und griff nach dem Stab. Swef übergab ihn ihm und berührte Acton dabei am Arm. Acton nickte zur Bestätigung. Er war so blass, wie Bramble ihn noch nie gesehen hatte.
    »Weil die Zukunft meiner Leute - der Leute meines Großvaters - auf dem Spiel steht, spreche ich hier mit der Stimme von Swef.«
    Bramble rechnete damit, die Menge werde lautstark protestieren, doch stattdessen herrschte völliges Schweigen unter den Anwesenden. Allerdings bewegten sich einige von ihnen unbehaglich hin und her oder strichen sich über den Bart, um sich zu beruhigen. Einige von ihnen trugen Verbände, anderen fehlte ein Arm, ein Auge oder ein Ohr, und alle Wunden waren noch rot und frisch. Sie stammten also von erst kürzlich gefochtenen Kämpfen. Vielen

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