Die Hueterin der Geheimnisse
sagte der Geist in Anspielung auf Ashs Namen, der so viel bedeutete wie Esche. »Denk daran, wenn der Wind stark genug ist, kann er Bäume entwurzeln.« Er lachte.
»Lasst uns in Ruhe.«
Flax wies energisch auf die Pferde.
»Lasst uns und unsere Pferde in Ruhe«, ergänzte Ash. »Lasst uns diesen Ort sicher passieren.«
»Was bietest du im Gegenzug?«, zischte der Geist. Dabei betrachtete er Flax aus den Augenwinkeln.
Ash dachte rasch nach. Auf keinen Fall würde er die Art Handel machen, den Doronit abgeschlossen hatte. Sie hatte Leben für Informationen gegeben, hatte ihnen verraten, wo sie Schiffe finden und versenken konnten, damit sie, Doronit, das Versicherungsgeld einstreichen konnte. Er würde Flax’ Leben nicht gegen das seine eintauschen. Aber irgendetwas musste er ihnen geben …
Hinter ihnen erklang das Geräusch scharrender Steine. Die Windgeister wirbelten kreischend auf, und Ash riskierte einen Blick zurück. Für den Fall, dass es sich um einen Trick handelte, um ihn abzulenken, fing er erneut an zu pfeifen. Es war aber kein Trick. Hinter ihnen stand ein Mann, der einen Arm schützend um den Kopf gelegt hatte, um sich die
Klauen der Windgeister vom Gesicht fernzuhalten. Vergeblich schlug er mit seinem Schwert durch die Luft. Im Sternenlicht war der Mann schwer zu erkennen, aber Ash hatte keinen Zweifel daran, wer es war. Er vergewisserte sich, dass Flax nach wie vor im Takt blieb und die Melodie hielt. Dann hörte er auf zu pfeifen.
»Horst!«, rief er. »Hierher.«
Horst stolperte auf sie zu, während ihm die Windgeister folgten und bösartig nach ihm hackten. Sie rissen ihm das Schwert aus der Hand, und es fiel auf den Boden.
»Du hast uns ein Opfer gebracht, Freund!«, sagte der führende Windgeist befriedigt. »Das ist ein guter Handel!«
»Nein!«, rief Ash im gleichen Moment und schlug die Hände des Windgeistes weg.
Die Windgeister kreischten auf, jagten erneut hinauf in den Himmel und stießen dann ein Stück weiter entfernt wieder hinab. Ash hatte einen Moment zum Nachdenken. Sollte er Horst opfern?
Er warf einen Blick auf Flax und erkannte, dass dieser in Angst und Schrecken versetzt war und jeden Handel eingehen würde, um seine Haut zu retten. Ash sah sich auf den Klippen oberhalb von Turvite stehen, wo er verzweifelt pfiff, damit er und Doronit in Sicherheit waren. Wenn ihm jemand gesagt hätte: »Opfere jemanden, der dich tot sehen will, und du bist in Sicherheit«, was hätte er dann geantwortet?
Im Prinzip wusste er, was er tun sollte. Wahrscheinlich würde es ihm niemand, nicht einmal Martine anlasten. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen, als er den Kutscher nicht getötet hatte. Außerdem konnte er einfach niemanden den Windgeistern ausliefern, nein, das konnte er nicht.
»Nein«, sagte er. »Das ist kein Opfer. Zu dem Handel gehört, dass auch ihm nichts geschieht.«
Horst schaute ihn erstaunt an.
»Was bietest du dann«, zischte der Geist, »das drei Leben wert ist?«
Verzweifelt ließ Ash seinen Blick nach etwas, irgendetwas schweifen, das er ihnen anbieten konnte. »Information«, sagte er schließlich.
»Welche?«
Ash schluckte. Er konnte nur hoffen, dass diese Nachricht wertvoll genug war. »Die Grenze zwischen Leben und Tod ist überschritten worden. Geister gehen über das Land und töten die Lebenden.«
»Ahaaaa.« Der Windgeist schoss in die Luft wie eine weiße Fontäne und kehrte dann zurück, um erneut vor ihm zu verharren. »Ist sie von einem menschlichen Wesen überschritten worden?«
Ash nickte.
»Wo?«
»Im Süden«, sagte Ash. »In Carlion.«
»Dann kommt, Brüder«, kreischte er. »Kommt zum Festmahl.«
Lachend, gackernd und schreiend schossen die Windgeister in den Himmel und wandten sich gen Süden, eine Wolke, die sich so bewegte, wie es keiner Wolke möglich war und auch nicht sein sollte, nämlich gegen den Wind.
Zitternd sank Horst zu Boden. Aus hunderten winziger Wunden rann ihm Blut über Gesicht und Arme. Im Glauben, er gehöre ihnen, hatten die Windgeister ihm schon beim ersten Anflug wesentlich größere Verletzungen zugefügt.
Ash und Flax verharrten noch eine ganze Weile mucksmäuschenstill, bis sie sicher waren, dass die Windgeister nicht mehr zurückkehren würden. Dann schauten sie nach den Pferden, tätschelten ihnen die schweißüberströmten Flanken und trösteten sie murmelnd, während auch sie
durch die Berührung des warmen Fells und der geschmeidigen Muskeln ruhiger wurden. Währenddessen behielten sie
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