Die Hueterin der Geheimnisse
folgenden Jahres wachsen ließ. Nichts war nur wegen seiner Schönheit da.
»Eine Rose«, dachte Lig eines Tages, während sie bei den Karotten kniete. »Eine weiße Rose. Das würde mir gefallen. Eine weiße Rose.«
Es war nur eine kleine Tradition, mit der sie brach, aber es befriedigte sie. Sie tauschte eine blaue Schüssel gegen den
Steckling einer weißen Rose aus dem Garten von Vine, dem Dachdecker, pflanzte den Steckling ein und säte um ihn herum noch einige Kornblumensamen.
Sie pflegte diesen Rosensetzling das ganze Frühjahr über und auch während des Sommers, mulchte und wässerte ihn, seifte die Blätter gegen Läuse ein und benutzte dunkles Bier gegen andere Schädlinge. Sie überließ Brond die Arbeit in der Küche, vor und nach der Geburt des Babys. Sie nannte sie Blaise, und sie war so rothaarig wie Lig.
Lig konnte nicht anders, als die Kleine zu lieben, aber dieses Mal überließ sie die Pflege ihrer Tochter und auch die des Feuers Brond.
Dem Feuer gefiel das nicht.
Das jedenfalls erzählten sie mir, als ich alt genug war, um die Geschichte zu verstehen, als mir mein kastanienbraunes Haar bis über die Schultern gewachsen war und ich an Tante Gleddas Beinen emporklettern konnte, so wie man einen Baum erklimmt. Dabei halfen mir ihre starken Hände. Sie sagten, Lig habe einen Fehler gemacht, weil sie glaubte, der Feuergott habe nur diejenigen gern, die er mit Kindern segnete, wo er doch die anderen beiden womöglich noch lieber habe, diejenigen also, die ganz für ihn da waren.
Sie erzählten, Lig habe beschlossen, wenn sie schon kein Kind in die Welt setzen könne, werde sie dieser eine Rose hinterlassen. Eine makellose weiße Rose, schöner als jede andere, die je gesehen wurde. Also erbat sie Stecklinge von jedem, der ein Rosenbeet besaß, und sie machte sich an den Hängen auf die Suche nach wilden Rosen, und sie pflanzte die Karotten und den Spinat und die Zwiebeln an den Rand des Gemüsegartens und benutzte den umfriedeten Garten nun für ihre Rosen.
Einige von ihnen bildeten kleine, zarte Knospen. Andere waren große, verlotterte Dinger mit wenigen Blättern, aber
einem vollen, berauschenden Duft. Ich kann mich an den Schwindel erregenden Geruch in dem umfriedeten Garten noch erinnern. Sie benötigte Jahre dafür, um die Blüten zu vergleichen und zu kreuzen.
Mit jedem Jahr der Vernachlässigung des Gemüsegartens wurde das Feuer wütender.
Nicht dass er nicht gepflegt worden wäre. Nein, sie alle pflegten ihn. Brond und Gledda, sie beide und auch Mim, als sie alt genug war. Und dann Blaise. Sogar ich. Und Lig, wenn ihr danach war, wenn sie gerade daran vorbeikam.
Sie saß aber nicht mehr da und starrte in das Feuer. Sie besang es während des Kochens und Saubermachens nicht mehr, denn nun dachte sie dabei an ihre Rosen. Sie roch jetzt nach Rosen, nicht mehr nach Holzkohle und warmer Wolle. Sogar im Winter. Sie machte Marmelade aus Rosenblütenblättern, fertigte Rosenblattkissen und kochte Hagebuttentee. Nach viel praktischem Herumprobieren gelang es ihr, eine Rosensalbe zu machen, und die Kaufleute, die zum Erwerb von Glasurarbeiten kamen, erwarben nun auch ihre Fläschchen mit Duftwasser und ihre Salben.
Im Stande zu sein, neben dem Essen aus dem Garten auch Silber ins Haus zu bringen, linderte vermutlich eine alte Verletzung.
Das Feuer schwelte.
Dann kam das Jahr, in dem Lig ihr Ziel, die makellose weiße Rose, erreichte. Eines Morgens im Frühjahr kam sie ins Haus gerannt und zerrte uns alle in den Garten hinaus. Ich weiß noch, dass meine Füße kalt von dem Tau waren und ich nicht begreifen konnte, wieso Tante Lig so viel Aufsehens wegen eines winzigen Rosenstocks machte, der nicht größer war als ich und nur eine einzige Blüte trug.
Wir begannen zu frühstücken, und Lig schwebte dabei wie auf Wolken.
»Wenn ich auch sonst nichts in meinem Leben mache«, sagte sie. »Das habe ich geschaffen. Die makellose Rose.«
Das Feuer loderte bullernd auf.
Ich kann mich noch daran erinnern. Der Schrecken, der Lärm, die plötzliche Hitze. Ich weiß noch, wie Mama Brond mich packte und loslief und dabei nach Blaise und Mim rief und Lig anschrie, sie solle laufen, laufen, laufen !
Aber Lig stand nur da und starrte wie gebannt in das Feuer. Wie verliebt.
»Meinetwegen?«, fragte sie. »Du bist nur meinetwegen gekommen?«
Als ich mich an der Tür umschaute, sah ich ihn. Ich konnte erkennen, wie er die Arme nach ihr ausstreckte, und sah sie lächeln und sich ihm direkt in die
Weitere Kostenlose Bücher