Die Hueterin der Geheimnisse
einer lebenden Toten geraten, ihr Geist von ihrem Körper abgetrennt, ihre Sinne abgestumpft, ihr Herz leer, abgesehen von der Liebe zu dem Rotschimmel. Dieser Zustand endete erst, nachdem sie die wiedergeborene Jagdbeute geworden war, wahrhaftig wiedergeboren im Verlauf des Frühlingsrennens mithilfe einer höheren Macht.
War sie erneut in diesen Zustand zurückversetzt worden? Es fühlte sich nicht so an. All ihre Sinne waren geschärft. Sie hörte draußen Schritte auf der Treppe. Sie spürte das Bettlaken unter ihren Schenkeln, spürte die Wärme der spätnachmittäglichen Sonne, deren Strahlen schräg durch hohe Fenster auf ihre Schultern fielen. Sie sah noch das kleinste Staubkorn im Strahl der Sonne tänzeln. Jedes wunderschöne Detail des Tages erfüllte sie mit Kummer und Wut darüber, dass Maryrose so brutal aus dem Leben gerissen worden war.
Sie fühlte sich so schwach, dass sie nicht einmal aufstehen konnte. Und sie stank nach kaltem Schweiß. Bei dieser Feststellung verzog sie amüsiert das Gesicht. Zumindest das konnte die Quelle der Geheimnisse nicht wegzaubern - sie stank nach den letzen Tagen und war froh darüber.
Martine steckte den Kopf zur Tür herein und lächelte sie an. »Hungrig?«
Bramble nickte. Falls sie überleben und herausfinden wollte, was Maryrose zugestoßen war, musste sie essen. Martine kam mit einem beladenen Tablett herein, gefolgt von Ash, der eine Waschschüssel und einen Wasserkrug trug, aus dem es dampfte.
Bramble schnupperte. »Es stimmt schon, das habe ich wohl nötig. Den Gestank konnte die Quelle der Geheimnisse nicht beseitigen.«
Auf Martines Gesicht zeigte sich ein verständnisvolles Lächeln, als empfinde auch sie die Quelle der Geheimnisse als beängstigend und freue sich, einen kleinen Witz über sie zu hören.
»Aber zuerst kommt das Essen«, sagte sie und reichte Bramble ein warmes Brötchen, aus dem Butter tropfte. Zwei Bissen, und es war verschwunden.
»Das war das Leckerste, was ich je gegessen habe«, sagte Bramble. Allerdings hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie das Essen so genießen konnte, während Maryrose … Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Ihr Körper war ausgehungert, und sie musste ihn ernähren. Sie hatte noch etwas zu erledigen.
»Dem Tod nahe zu sein verleiht dem Leben neue Würze«, erwiderte Martine.
»Nicht immer.«
Der junge Mann, Ash, war damit beschäftigt, die beiden Betten zu machen. Bramble bemerkte, dass er sich bemühte, sie in ihren Brustbändern nicht anzuschauen. Das war liebenswert und ein wenig Besorgnis erregend zugleich. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein Junge, der sich nach ihr verzehrte. Sie zog das Laken hoch, um sich zu bedecken. Immerhin hatte er ihr das Leben gerettet. Das hatten sie beide.
»Ich muss mich bei euch bedanken«, sagte Bramble und hielt kurz inne, bevor sie sich einem Becher Suppe zuwandte. Da sie so hungrig war, fiel es ihr schwer, eine Pause einzulegen. Sie nahm einen winzigen Schluck. Spargel und Sahne. Köstlich. »Ich verdanke euch mein Leben.«
Bei diesen Worten drehte sich Ash zu ihr um, und Martine
zuckte mit den Schultern. »So etwas passiert, wenn man mit einer Schutzwache unterwegs ist«, sagte sie und deutete mit der Hand auf Ash. »Man wird beschützt.«
Bramble schaute Ash mit neuen Augen an, woraufhin dieser errötete. Trotz seines zotteligen Haars war er ein wenig älter, als sie geglaubt hatte, und wirkte mit seinen ausgebildeten Muskeln kräftig. Er lächelte sie zaghaft an, und sie erkannte, dass er trotz seiner Stärke und seiner Behändigkeit unsicher war. Sie erwiderte das Lächeln.
»Dank sei den Göttern dafür, dass ihr zur rechten Zeit gekommen seid.« Und dem See, dachte sie, der mich zum richtigen Zeitpunkt dorthin geschickt hat. Sie erinnerte sich daran, den See verlassen zu haben und durch die Zeit befördert worden zu sein. In einem einzigen Herzschlag war der Spätherbst zum Frühling geworden. Bei dem Gedanken daran zitterte sie vor Ehrfurcht. Das war wahre Macht.
»Hmm«, sagte Ash. »Es ist schon ihr Werk.«
Aha, dachte Bramble, ich bin also nicht die Einzige, die die Götter herumkommandieren. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht.
»Wenn du dich gewaschen hast, sollten wir Safred besuchen«, schlug Martine vor. »Die Quelle der Geheimnisse.«
»Die Quelle der Geheimnisse«, wiederholte Bramble. »Ja, das müssen wir wohl. Nachdem ich mir die Pferde angeschaut habe.«
Nachdem sie sich gewaschen und saubere
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