Die Hueterin der Geheimnisse
Da war ein Geräusch draußen, das er noch nie vernommen hatte. Als summe jemand, als summe eine ganze Gruppe von Menschen. Als sängen sie. Sehr hoch, sehr tief, einige lieblich, andere rau. Nicht ganz in der gleichen Tonhöhe. Das Geräusch machte ihn nervös, dennoch wollte er mehr davon hören. Näherten sich so die Leute von Cold Hill Wanderern, um sie zu töten? Singend?
»Hallo? Ist da jemand?«
Es war die unsichere Stimme eines Mannes. Er stand in dem Licht, das durch die Tür fiel. Ash lugte durch die Spalte zwischen Tür und Rahmen und taxierte den Mann sorgfältig. Ein Wanderer. Ash entspannte sich und ließ das Messer wieder in seinen Stiefel gleiten.
»Wir sind hier.«
Der Mann drückte die Tür ganz auf und spähte in die Dunkelheit. »Ich kann euch nicht sehen.«
Ash trat vor, wobei er darauf achtete, sein Gleichgewicht so zu verlagern, dass er zum Kampf bereit war, falls es sich hier um einen Trick handelte.
»Ach, da seid ihr«, sagte der Mann und hörte sich erleichtert an. »Ich habe hier etwas für dich.« Er hielt ihm einen Beutel entgegen. Den Beutel eines Steinedeuters.
»Sie rufen jetzt schon eine Woche lang«, sagte er.
Ash schluckte. Er hörte dieselbe Melodie, die er schon gehört hatte, während Flax das Schlaflied gesungen hatte, und sie kam aus dem Beutel. Er konnte die Steine hören . Genau wie Martine es gesagt hatte.
»Für mich?«, fragte er.
Der Mann nickte. »Ich dachte erst, er könnte für den Sänger bestimmt sein, aber nein, du warst es, der Trommler.« Er machte eine Geste mit dem Beutel. »Komm. Nimm ihn.« In seiner Stimme schwang etwas mit, ein großes Bedürfnis, den Beutel loszuwerden. Flax veranlasste es dazu, Ash eine Hand auf den Arm zu legen.
»Nimm sie nicht. Es ist ein Trick«, sagte er. »Es ist keine Falle!«, erwiderte der Mann. »Ich habe es nicht darauf angelegt, jemandem Schaden zuzufügen. Ich heiße Auroch, ich bin Kaminbauer und hier in der Gegend gut bekannt. Außerdem bin ich Steinemacher. Und die sind nicht so bekannt, wenn ihr versteht, was ich meine.«
Das taten sie. Steinemacher waren rar gesät, und nur Steinedeuter wussten genau, wer sie waren. Flax entspannte sich ein wenig, hielt Ash aber nach wie vor zurück. Ash wollte ihn abschütteln und die Steine an sich reißen, wusste jedoch, dass Flax vernünftig war, und blieb deshalb ruhig. Sein Blick blieb auf den Beutel Steine geheftet.
»Warum bist du so sehr darauf bedacht, meinem Freund den Beutel zu geben?«, fragte Flax misstrauisch.
»Um ihn loszuwerden«, sagte Auroch aufrichtig. »Das hier ist ein unglückseliger Satz Steine.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Er hat einen neuen Stein.«
Stumm verharrten sie eine Weile. Ash atmete schwer. Er
musste an ein Lied denken, das seine Mutter einmal über die Steine gesungen hatte.
Wirf einen neuen Stein, wirf einen neuen Stein,
Und verändere das Gefüge der Welt
Deshalb also waren die anderen Steine für ihn nicht die richtigen gewesen, obwohl Martines Deutung darauf hingewiesen hatte, dass er ein Steinedeuter war. Diese hier hatten auf ihn gewartet. Ein neuer Satz. Ein neuer Stein.
Er streckte die Hand nach dem Beutel aus, und Auroch ließ ihn in seine Handfläche fallen, drehte sich um und verschwand eilig in die Dunkelheit hinaus.
Ein immer lauter werdendes Lied umhüllte Ash. Die Steine sangen hoch und tief, laut und leise, jeder mit seiner eigenen Note, alle miteinander zu einer außergewöhnlichen Melodie verschmelzend. Da war ein Ton, der sich im Mittelpunkt befand, das hörte er heraus, ein Ton, um den sich alle anderen rankten.
Das war etwas, das vor ihm noch nie ein Steinedeuter vernommen hatte.
Aurochs Geschichte
Ich wollte ihn nie. Als ich noch ein Knirps war und meine Mama die Geschichten über Steinedeuter erzählte, die dazu auserwählt waren, neue Steine zu finden, dachte ich, hoffentlich passiert mir das nie. Wenn ein neuer Stein in den Beutel kommt, bedeutet das, dass die Welt sich verändern wird, denn die Steine und die Welt spiegeln einander wider, auch wenn ich nicht verstanden habe, was es mit dieser Spiegelung auf sich hat. Manchmal habe ich mich gefragt, wie Steinedeuter so unbeschwert durch die Gegend laufen können, wo doch die ganze Welt an ihrer Hüfte baumelt.
Die Welt zu verändern erschien mir als zu bedeutend für mich. Zu gruselig. Vielleicht hatte ich ja Recht, und er hatte mich ausgesucht, weil ich ihn nicht wollte. Das ist gut möglich. So gehen die Götter vor. Vielleicht war ich
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