Die Hueterin der Geheimnisse
aber auch bloß der einzige Steinemacher in der Nähe. Immerhin gibt es nur noch drei von uns. Es liegt in der Familie, wie bei meiner Mama und mir, und irgendwie wird die Gabe stets nur an einen oder zwei in jeder Generation vererbt.
Steinemachen ist nicht alles, was ich tue. Steine können nicht gekauft oder verkauft werden, bloß weitergegeben. Das ist auch gut so. Ein guter Steinemacher stellt vielleicht zwanzig Sätze in seinem ganzen Leben zusammen, und Wanderer sind nicht gerade die reichsten Kunden, also würde man sowieso nie davon leben können.
Gelernt habe ich den Beruf eines Kaminbauers. Man könnte meinen, jeder Baumeister könne einen Kamin aufrichten. Aber sobald man mehr als nur eine Feuerstelle am Ofenrohr anschließt, wird es eine Sache für den Fachmann, und das wissen die guten Hausbauer auch und holen mich für diesen Teil ihrer Tätigkeit.
Turvite ist so groß geworden. Deshalb sind wir nun halb sesshaft geworden, ich und Cricket und Grass, unsere Tochter. Im Winter wohnen wir hier, im Sommer sind wir auf Wanderschaft. Die Steine finde ich im Sommer. Vor allem oben im Norden, weil die Leute dort Kamine gern aus Flusssteinen gebaut haben wollen und ich diese dann sammele. Ungefähr die Hälfte der Deutungssteine besteht aus Flusssteinen. Sie tragen die Eigenschaft für Veränderung schon in sich: Geburt, Tod, Chaos, Reise, Wachstum. Sie pfeifen und singen und summen mir zu, während ich mit den größeren Kaminsteinen hantiere, und dann lasse ich sie so sanft in meine Tasche gleiten, wie Vögel Moos in ihr Nest legen.
Die restlichen finde ich unterwegs. Die rauen Steine rufen eindringlich: Mord, Verrat, Wut. Am lautesten ist ein guter Eifersuchtsstein. Der letzte, den ich gefunden habe, schrie mich geradezu vom Wegesrand in der Nähe von Mitchen an, ein Feuerstein in einem Kreidefeld.
Mir gefällt es überhaupt nicht, die rauen Steine zu finden. Der Schrei, den sie in meinem Kopf verursachen, ist so unangenehm wie ihre Bedeutung, und ich habe dann noch tagelang Kopfschmerzen.
Das Verwirrende an Steinen ist, dass sie sich untereinander nicht alle mögen. Jeder neue Stein muss sich seinen Satz aussuchen, und einige von ihnen sind äußerst wählerisch. Zu der Zeit, als es geschah, war ich dabei, drei Sätze zusammenzustellen. Zwei waren so gut wie vollständig und warteten nur noch auf ein paar Steine. Bei einem fehlte nur
noch der leere Stein. Einen Satz hatte ich gerade erst begonnen, er bestand aus drei Steinen, nämlich denjenigen, die immer als erste gefunden werden: Geburt, Tod, Wiedergeburt. Der leere Stein kommt immer als letzter und besagt, dass der Satz nun vollständig ist, selbst wenn er nicht jeden einzelnen Stein beinhaltet, von dessen Existenz man weiß. Das liegt daran, dass manche Steinedeuter ihre eigenen Steine schon gehört haben, bevor sie im Beutel sind. Sie lesen sie als Kinder auf und benutzen sie aufs Geratewohl, auch wenn sie zu dieser Zeit noch nicht wissen, was sie bedeuten. Wenn man einen Satz zusammenstellt, bei dem noch ein Stein fehlt, stellt man immer fest, dass derjenige, dem man dem Beutel übergibt, den fehlenden Stein in der Tasche hat. Dann muss man nur noch eine Seite des Steins für ihn markieren und sagen, um welchen Stein es sich handelt, obwohl er normalerweise zu dem Deuter spricht, sobald er bei den anderen im Beutel ist.
Manchmal kann es zehn Jahre dauern, bis man einen Satz zusammengestellt hat. Ich hatte für diesen einen Satz, der fast vollständig war, beinahe mein ganzes Leben benötigt. Den ersten Stein hatte ich gefunden, als ich noch ein Baby war. Meine Mama hat mir erzählt, dass ich ihn fand, als ich am Ufer eines Wasserlaufs spielte, wo sie Lilienwurzeln suchte. Ich grub mit meinen fetten Babyhänden im Flusssand, hat sie erzählt und dabei gelacht, und versuchte dann, ihn mir in den Mund zu stecken. Ich wäre an dem Stein für Geburt fast erstickt, meinte sie, wenn sie ihn nicht hätte rufen hören und ihn mir abgenommen hätte.
Das war mein erster Stein überhaupt, und er ist wunderschön, flach und oval, glatt, mit einem Quarz ohne jede Ader darin. Er ist kostbar, und jedes Mal, wenn ich mich ihm näherte, sang er von Anfängen. Ich liebte diesen Stein und dachte, ich könnte ihn für immer behalten.
Als ich etwa acht Jahre alt war und mir mein erster Satz Steine schwer im Beutel lag, war ich mit meiner Mutter unterwegs. Sie besuchte einen Steinedeuter, der einen neuen Lehrling angenommen hatte. Meine Mama wollte sehen, ob der
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