Die Hueterin der Geheimnisse
Steinen, aber das war das Problem der Besitzerin. Ziegelsteine sind leichter zu verlegen, halten jedoch nicht so gut die Hitze aus. Es sollte ein großes zweistöckiges Haus mit vier Feuerstellen und zwei Kaminen werden, und die Besitzerin versuchte, mich dazu zu überreden, oben in der Dachkammer noch eine weitere kleine Feuerstelle zu errichten. Dass hätte den Zug im Rohr zunichtegemacht und die unteren Herdstellen bei schlechtem Wetter qualmig. Aber sie wollte absolut nicht auf mich hören. Sie stritt sich mit mir, ohne Luft zu holen, sodass ich ihr gar nicht mehr zuhörte. Und plötzlich hörte ich ihn rufen.
Ein Lied, ein Ruf, ein Schrei, den ich noch nie zuvor von einem Stein vernommen hatte, ob innerhalb eines Beutels oder außerhalb. Ich bin kein Mann der Worte, ich kann es nicht beschreiben. Es war wie das Summen eines entfernten Bienenstocks oder das ständige Brausen der Brandung in der Ferne. Nicht laut, sondern beruhigend irgendwie. Ich muss seltsam ausgesehen haben, denn die Besitzerin sagte: »Nun, wenn deine Einstellung so ist, kann ich mir jederzeit einen anderen Baumeister besorgen!«
»Dann tu das«, sagte ich. Ich verließ das Haus und ging zum Fluss am Ende des Gartens, denn von dort erklang der Ruf. Als ich näher kam, verwandelte sich das Summen in ein Lied, auf einer einzigen Note basierend, so als versuche ein Sänger, sein Publikum mit dem Volumen seiner Lungen zu beeindrucken. Aber in dieser Note schwang noch etwas mit, das ich gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Es schwirrte mir im Kopf herum und ließ vor meinen Augen das Licht tanzen. Der Stein war leicht zu finden, obwohl er einen Fuß tief im Boden lag. Ich langte einfach hinunter, schob die Hand durch den weichen, kühlen Schlamm und hielt ihn in der Hand. Groß war er nicht, halb so groß wie die meisten anderen Steine, doch er fühlte sich in meiner Hand gut an, und als ich ihn berührte, veränderte er seinen Ton, wurde tiefer, schneller, als wäre der Stein selbst aufgeregt.
Ich wusch ihn ab. Er war kohlrabenschwarz, schwarz wie Pech. Schwärzer noch. Ein vollkommen schwarzer Stein ist seltener, als man glauben mag. Er war perfekt rund und ganz flach auf beiden Seiten wie eine Münze. Das Merkwürdige an ihm war jedoch, dass es sich um keinen der mir bekannten Steine handelte. Dieses Lied, dieses Gefühl gehörte bis jetzt zu keinem der Steine in irgendeinem Beutel in den Domänen. Als ich das begriff, lief mir ein Schauer über den Rücken, und ich begann zu frösteln. Aber es konnte ja ein
Stein sein, der in anderen Ländern alltäglich war. Die Wind Cities hatten Steine, die es bei uns nicht gab, und deren Namen kannte ich allesamt.
»Was bist du?«, flüsterte ich, und der Stein sang zurück. Gleichmäßigkeit, erwiderte er. Gleichgewicht auf den Waagschalen.
Von einem solchen Stein hatte ich noch nie gehört, und mir wurde übel. Einen neuen Stein in die Welt zu bringen war so, als verändere man die Welt selbst … so etwas war immer noch viel zu bedeutend für mich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wünschte, meine Mama wäre noch am Leben gewesen.
Ich kehrte dem Fluss und der nörgelnden Hausbesitzerin den Rücken zu und ging zurück in das Cottage, in dem ich wohnte. Ich hatte mir dort bei einem sesshaft gewordenen Wanderer ein Zimmer gemietet. Als ich durch das Tor des Cottage schritt, hörte ich von weiter unten an der Straße ein Lied. Ein Lied, das ich kannte. Der leere Stein. Er lag einfach mitten auf der Straße, schlicht und ergreifend, als habe er nur darauf gewartet, dass ich Notiz von ihm nahm. Er war grau mit silbernen Streifen. Nichts Besonderes. Leere Steine wie diesen hatte ich schon ein Dutzend Mal gesehen. Dies bedeutete, dass der Satz jetzt vollständig war.
Ich setzte mich an meine Werkbank und betrachtete den Stein. Dann holte ich den Feuerstein hervor, den ich dazu benutzte, um auf einer Seite jedes Steins in dem Beutel eine Markierung vorzunehmen. Manche Steine sagen einem, auf welcher Seite man die Markierung machen soll. Anderen ist es egal. Aber als ich den Feuerstein in die Nähe des schwarzen Steins legte, stieß er einen gellenden Warnschrei aus. Keine Markierung, sang er. Wir sind auf beiden Seiten gleich. Darauf kommt es an.
Mir drehte sich der Magen um. Ich trat an meine Truhe
und holte den Beutel hervor, den Satz, bei dem nur noch ein leerer Stein fehlte, jener Satz, den ich schon mein ganzes Leben lang zu vervollständigen suchte. Ich legte den leeren Stein in den Beutel
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