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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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Satz, den sie im Winter zuvor fertig gestellt hatte, zu dieser jungen Frau passte.
    Ein Außenstehender hätte nicht viel gesehen. Wir setzten uns, der alte Steinedeuter schenkte uns Tee ein, plauderte mit Mama über nichts Besonderes, das Wetter, die jüngste Hinrichtung durch den Kriegsherrn, den Preis der Gerste. Der Lehrling, eine unscheinbare junge Frau, die in meinen Augen sehr erwachsen aussah, in Wirklichkeit aber wohl erst etwa sechzehn Jahre alt war, setzte sich hin und starrte Mamas Steinebeutel auf dem Tisch an. Ich konnte die Steine in ihrem dunklen Beutel reden hören, wie sie es immer taten, verstimmt und misstönend, jeder von ihnen sein Bestes gebend, um gehört zu werden, auch wenn manche, zum Beispiel Gerechtigkeit, im Flüsterton sprechen und andere schreien.
    Auch der Lehrling hörte sie, davon überzeugte mich der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ihre Hand glitt immer näher an den Beutel. Dann passierte etwas Merkwürdiges, das mein Leben verändern sollte, denn plötzlich veränderten die Steine ihre Stimmen. Je näher sie kam, desto mehr sangen sie gemeinsam, wobei die rauen Steine den Rhythmus des Liedes vorgaben, die sanften die Melodie. Als sie den Beutel schließlich berührte, erlangten sie vollkommene Harmonie, sangen allesamt dasselbe Lied, auch wenn das Raue nach wie vor rau und das Sanfte nach wie vor sanft klang. Mama nickte ihr freundlich zu.
    »Ich denke, sie gehören zu dir«, sagte sie mit Befriedigung. Der Lehrling strahlte sie an und sah dabei wunderschön aus. In diesem Moment erkannte ich, dass meine ganze Arbeit anderen Leuten gewidmet sein würde. Dass mein hübscher
Geburtsstein einem anderen zufallen würde, dass, ganz gleich wie viele Sätze Steine ich zusammenstellen würde, keiner von ihnen für mich singen würde, so wie dieser Beutel Steine für sie gesungen hatte. Dass ich die Steine nicht würde stimmen können.
    Auf dem Nachhauseweg war Mama außer sich vor Freude.
    »Es besteht überhaupt kein Zweifel«, sagte sie. »Es ist schön, wenn es so klar und deutlich ist. Manchmal bleiben die Steine ein wenig verstimmt, und dann fällt es schwer zu entscheiden, ob sie einen anderen Deuter brauchen oder ob der Lehrling noch nicht ganz so weit ist.«
    Ich sagte nichts, und sie schaute mich an.
    »Was ist denn?«
    »Nichts«, sagte ich. Aber sie kannte mich zu gut, als dass sie das geschluckt hätte. Sie gab mir einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf.
    »Was ist?«, hakte sie nach.
    »Wir können sie nie behalten«, sagte ich. »Nie singen sie so für uns.«
    »Sie verändern ihr Lied, wenn wir einen Satz fertig gestellt haben«, sagte sie.
    »Nicht so. Sie singen nicht gemeinsam.«
    Sie schwieg eine Weile. Dann stieß sie einen Seufzer aus. »Nein. Das ist so«, räumte sie ein. »Aber stell es dir so vor: Ein Baumeister baut ein Haus für ein frischgebackenes Paar. Rechnet er damit, selbst darin zu wohnen? Ein Brauer macht ein Fass Bier für den Kriegsherrn. Rechnet er damit, es selbst zu trinken? Oder, noch naheliegender, ein Flötenbauer stellt eine Flöte her: Rechnet er damit, selbst darauf zu spielen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind Hersteller, Auroch, und es ist das Schicksal der Hersteller, anderen weiterzugeben, was wir erschaffen.«
    Ich ließ den Kopf hängen. »Flöten sind nicht lebendig. Sie
klingen beim Hersteller und beim Flötenspieler nicht unterschiedlich.«
    »Nein?« Mama lachte. »Da hat mir mein Freund Rowan aber etwas anderes erzählt. Er meint, seine Flöte klinge bei anderen nie so wie bei ihm.«
    Ich schaute sie an, zog die Schultern hoch, und sie zerzauste mir das Haar. »So ist das eben, Junge«, sagte sie mitfühlend. »Kein Steinemacher ist jemals auch Steinedeuter gewesen. Das sind unterschiedliche Begabungen. Denk daran, ohne uns gäbe es kein Steinedeuten. Denk immer daran.«
    Tatsächlich dachte ich immer einmal wieder über eine Welt nach, in der die Zukunft leer und dunkel war, in der Ängste nicht hinterfragt und gemildert werden konnten, in der Hoffnungen ungehindert von der Wirklichkeit gehegt werden konnten. Ich stellte mir eine Welt ohne Sinn dafür vor, was noch kommen würde, und ich schauderte und dachte, meine Mutter habe Recht. Wir waren wirklich wichtig. Doch damals erkannte ich nicht, dass sich die Zukunft ändern kann. Ich wusste nicht, dass ich sie ändern würde.
    An jenem Tag also, einem schönen Frühlingstag, arbeitete ich an einem Kamin in einem Dorf namens Cold Hill. Ich arbeitete mit Ziegelsteinen, nicht

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