Die Hueterin der Geheimnisse
niemals zurückkehren zu können, aus der Gesellschaft der Wanderer verstoßen zu werden und gezwungen zu sein, sesshaft zu werden, weil es für ihn keinen Platz auf der Straße gab. Er hatte befürchtet, der Fluss werde ihn abweisen, falls er versuchte, ohne seinen Vater hierherzukommen.
Davor fürchtete er sich nach wie vor, doch es gab Wichtigeres als das. Er beobachtete seinen Vater, der nun wie die anderen den Jungen prüfend betrachtete. Die Dämonengestalten strichen leise knurrend um Flax herum, streckten die gekrümmten Klauenhände aus, um sein Gesicht zu berühren, ihn in die Seite zu knuffen, ihn zu kratzen.
»Wenn du stillhältst und keine Furcht zeigst, wird dir kein Leid geschehen«, sagte Ash ruhig. Das hatte ihm sein Großvater auch gesagt. Er war ihm und seinem Vater hier in dem Jahr vor seinem Tod begegnet - dem ersten Jahr, in dem Ash gekommen und so geprüft worden war, wie es mit Flax in diesem Moment geschah. Er war zwar überzeugt davon, dass dieser Ratschlag der Wahrheit entsprach, aber die Dämonen kicherten einander beunruhigend zu. Ash fragte sich, was wohl mit den Jungen geschah, die dem Druck nicht standhielten und versuchten wegzulaufen.
Dies war nur die erste Prüfung, doch sie währte bis zum Morgengrauen, bis Flax vor Müdigkeit schwankte und alle Furcht von ihm gewichen war, weil er zu erschöpft war, um sie zu empfinden. Als die Dämmerung irgendwo außerhalb der Schlucht anbrach, erhellte sich der Himmel mit rosaund orangefarbener Pracht, und die Dämonen hoben die Köpfe, heulten und stießen ein langes Wehklagen aus. Dann
drehten sie sich wie auf Kommando um und liefen in die große Höhle.
Ash ging zu Flax hinüber und führte ihn zu einem flachen Felsen, damit er sich setzen konnte. Aus einem winzigen Wasserlauf, der zwischen zwei Findlingen floss, holte er in einer geschwungenen Muschel Wasser und hielt diese so, dass Flax trinken konnte.
»W-wieso …?«, stotterte Flax.
»Das war die erste Prüfung«, sagte Ash. »Weitere werden folgen.«
»Dämonen. Einer von ihnen war dein Vater?«
Ash nickte. »Du wirst ihn bald kennen lernen.«
»Deswegen kennt er die richtigen Lieder? Weil er ein Dämon ist?«
»Ach nein, nicht wirklich.«
»Du hättest mich warnen sollen!« Jetzt, da er nicht mehr auf wackeligen Beinen stand und sein Durst gelöscht war, brachte Flax wieder genug Energie auf, um wütend zu sein.
»Nein, hätte ich nicht«, sagte Ash. »Ich hatte Stillschweigen gelobt. Ich hatte dich gewarnt, dass es gefährlich ist.«
»Ja, aber … echte Dämonen.«
Ash lachte. »Oh, so schlecht sind sie gar nicht, wenn man sie erst einmal kennt!«
Dass Flax glaubte, Ash sei von einem Dämon in die Welt gesetzt worden, und nicht sofort begriff, wer die dachsköpfige Gestalt war, konnte sich Ash nicht vorstellen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn in diesem Glauben zu lassen. Das Missverständnis würde ohnehin nicht lange währen. Er hob seine Sachen und die von Flax auf, und sie zogen sich wieder an, froh, der Kälte zu entrinnen.
Während Flax ihre Taschen nach etwas Essbarem durchwühlte, ging Ash fort. Darauf wartend, dass die Sonne über dem Rand der Schlucht aufging, kniete er sich an den Wasserlauf,
fuhr mit einer Hand durch das kalte Wasser und fragte sich, was wohl oben im Norden Bramble und die anderen gerade erlebten. Er vermisste Martine. Oakmere war weit nördlich von dem Gebiet, in dem seine Vorfahren gelebt hatten; es gab dazu keine Wandererlieder, und im Moment war er froh darüber. Er hatte Lieder satt. Sie waren ihm zutiefst zuwider.
Sie waren sein ganzes Leben lang in ihm erklungen und hatten immer wieder einmal mit aller Macht versucht, nach außen zu dringen. Gesungen hatte er dennoch nie, weil seine Eltern stets einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht bekamen, wenn er es versuchte. Mittlerweile wusste er, dass er mit der Stimme der Toten gesungen hatte, sodass die Reaktion seiner Eltern verständlich war. Doch damals, als er drei, vier, fünf Jahre alt gewesen war, hatte er nur gewusst, dass seine Stimme so entsetzlich war, dass selbst sein Vater es nicht ertrug zuzuhören. Dennoch hatte sein Vater ihn die Lieder gelehrt. Er hatte ihm beigebracht, Flöte und Trommel zu spielen. Er hatte ihn die Liedtexte gelehrt und zugehört, wie Ash sie alle so lange aufsagte, bis er sie fehlerfrei beherrschte.
Alle. Das war der Punkt. Er hatte all das gelernt, was sein Vater ihm beibringen konnte. Sein Vater hatte ihm die Lieder anvertraut,
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