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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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gedeutet hatte, bis zur North Domain geschafft. Der Weg war schwieriger, aber kürzer als der durch das Golden Valley. Ich kletterte steile Ziegenpfade hinauf, auf die ich mich nie gewagt hätte, hätte ich Snow nicht vor Einbruch des Winters sicher in die Ansiedlung bringen müssen. Ich begegnete keiner Menschenseele.

    Am Abend des zweiten Tages, nachdem ich den Pass hinter mir gelassen hatte, kam ich aus dem Vorgebirge hinunter in ein kleines, bewaldetes Tal mit aufrechten Birken, die schon herbstlich gefärbt waren, sodass die Bäume wirkten wie grüne Säulen mit einem blassen Schleier aus gelbem Feuer an ihren Spitzen. Es war ein wunderschöner Ort. Ich war froh, als ich in der Nähe einen Wasserlauf plätschern hörte. Ich hatte mir Snow mit meinem Schal um die Brust gebunden, und jetzt wachte er auf und fing an, schreiend sein Essen einzufordern. Ich trank aus einer Schale aus Birkenrinde, und ich war so durstig, dass ich vergaß, den Baum um die Erlaubnis zu bitten, die Rinde abzuschälen. Ich trank und setzte mich, um meinen Kleinen zu stillen, und lächelte gerade darüber, wie seine kleinen Finger meine Brust kneteten, als ich bemerkte, dass jemand vor mir stand.
    Mein Herz machte einen Sprung vor Schreck. Ich hatte keinen Laut vernommen. Ich schaute hoch, doch dort war niemand. Das Licht musste mir einen Streich gespielt haben. Ich schaute wieder zu Snow hinunter, und da stand die Gestalt erneut vor mir.
    Ich hatte Schrecken kennen gelernt, als sie wegen Lidi gekommen waren, als sie ihn getötet hatten, aber diese Angst nun war anders. Es war eine heilige Angst. Ich hatte nie seherische Fähigkeiten besessen oder die Götter gehört, doch ich wusste, dass das, was ich gesehen hatte, aus jener anderen Welt stammen musste, die sie bewohnen.
    Snow hörte auf zu trinken und stieß laut auf. Ich zuckte zusammen und schaute wieder zu ihm hinab, und erneut sah ich die Gestalt. Dieses Mal hielt ich den Kopf gesenkt. Um die Gestalt herum flimmerte es, so wie sich Blätter bewegen, während der Stamm eines Baumes unbewegt bleibt. Es war aber kein Grün oder irgendeine andere Farbe, die ich kannte. Eher farblos, so wie flimmernde Hitze über einem Felsen im
Sommer. Ich konnte nicht hindurchsehen. Es war stofflich, aber … nicht da. Nicht ganz hier in dieser Welt.
    »Zum Gruße«, flüsterte ich.
    Die Gestalt bückte sich und hob die Rindenschale auf, die ich vom Stamm des Baumes abgerissen hatte. Sie wiegte die Schale in ihren - waren es Hände oder etwas anderes? Ich konnte es nicht sehen, nicht genau erkennen. Sie zischte, ein seltsamer Laut, der sich anhörte wie Wind, der durch Blätter fuhr.
    Ich war davon überzeugt, dass es der Geist der Birke war, gekommen, um mich dafür zu bestrafen, dass ich die Rinde gestohlen hatte.
    »Es tut mir wirklich, wirklich leid«, stammelte ich. »Aber das Baby musste gestillt werden, und ich war so durstig, da habe ich gehandelt, ohne darüber nachzudenken.«
    Die Gestalt streckte eine Hand nach Snow aus, und ich sprang auf und zog ihn weg. Kaum war ich aufgestanden, verschwand sie aus meinem Sichtfeld, nicht aber aus meinem Gehör. Das Zischen setzte sich fort.
    »Es ist nicht seine Schuld!«, schrie ich. »Es ist meine!«
    Ich senkte den Kopf und schaute zu Boden, und nun konnte ich sie vage vor mir stehen sehen, die Hand nach Snow ausgestreckt, aber innehaltend, nachdenkend. Als ihr Kopf auftauchte, erkannte ich, dass das Wesen kleiner war als ich, aber es hatte viel längere Arme und womöglich auch mehr. Ich konnte es nicht sehen, und nicht sehen zu können erschreckte mich mehr, als ich geglaubt hätte. Die Bedrohung meines Sohnes nicht mehr sehen zu können, sobald ich den Kopf hob … Es konnte überall sein, überall hingehen, von überall herbeispringen … Ich hielt den Kopf unten und betrachtete es von so nah, wie ich konnte.
    Es schaute mich an, und das Zischen verstärkte sich, bis es klang wie ein Wald während eines Sturms, ein Meer von
Bäumen, die im Wind wogten. Das Zischen kam in Wellen, und obwohl ich die Götter nicht verstehen kann, begriff ich dies doch. Dies war nicht der Geist eines Baumes, sondern der Wächter von vielen Bäumen. Und er verlangte Wiedergutmachung.
    »Es war meine Schuld«, sagte ich, »und ich werde dafür bezahlen. Aber nicht jetzt, ich flehe dich an.« Bei diesen Worten brach meine Stimme, und ich unterdrückte ein Schluchzen. Tränen würden dieses Wesen nicht umstimmen.
    »Lass mich meinen Sohn in Sicherheit bringen, lass mich

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