Die Hueterin der Geheimnisse
großer Bauernhof, mit einer ganzen Reihe von Häusern, Schuppen und Scheunen, Milchkammern und Schmieden und einer großen Versammlungshalle.
Eine hochaufgeschossene, robuste Frau mit ergrauendem gelbem Haar, die Apple hieß, begrüßte sie mit einem Lächeln und sorgte dafür, dass sie in der Versammlungshalle zusammen mit dem Rat der Ansiedlung zu Mittag aßen. Ein besonderes Festessen gab es jedoch nicht. Die Ratsmitglieder kamen in ihrer Arbeitskleidung von den Feldern, und Arvid wurde genauso behandelt wie jeder andere Gast auch. Ständig rannten Kinder in die Halle und wieder heraus, erbettelten Essen von ihren Eltern und anderen Leuten, so auch von Arvid, der am Tischende mit den Ratsmitgliedern in ernste Gespräche verwickelt war.
Martine fiel auf, dass die Kinder den Erwachsenen in die Augen schauten, statt ihren Blick respektvoll zu senken, wie es anderswo üblich war. Sie sprach es gegenüber Apple an, als diese ihr einen Teller mit Schinken und Essiggurken zu dem Brot reichte.
»Sie lernen, dass sie allen anderen Menschen gegenüber gleichberechtigt sind. Sie lernen aufzuschauen, nicht stolz oder unverschämt, denn das würde bedeuten, dass man selbst wichtiger wäre als der andere. Sondern von gleichem
Wert.« Die Worte kamen ihr leicht über die Lippen, und es war klar, dass dies eine Lektion war, die sie ihren eigenen Kindern schon häufig erteilt hatte.
»Zu glauben, dass man gleichwertig ist, hält die Leute des Kriegsherrn nicht davon ab, einen zu schlagen, wenn sie glauben, man ließe es an Respekt mangeln«, sagte Martine.
Holly, Arvids Leibwächter, lachte, ohne Anstoß zu nehmen.
»Jawohl, anderswo ist das so, und wir haben es alle am eigenen Leib erfahren«, erwiderte Apple, den Mund voller Schinken. »Aber Arvid ist selbst ein Valuer oder doch so gut wie einer.«
»Seine Mama ist als Valuerin groß geworden, genau wie meine«, sagte Safred plötzlich. »Aber sie ist bei ihrem Lord geblieben. Sie lebt noch. Almond, heißt sie, doch sie haben ihr Baby nach seinem Großvater Arvid genannt statt Cedar, wie sie es wollte.«
Ein kurzes, unbehagliches Schweigen entstand. Safred grinste.
»Das haben mir nicht die Götter gesagt. Almond war es.«
Cael lachte und musste sich die Hand auf den Mund legen, damit er keine Krümel ausspuckte. Dann zuckte er zusammen und berührte verstohlen mit der Hand die Brust, als wolle er den Schmerz seiner Verletzung dort lindern. Safred bemerkte es, und ihr Gesicht spannte sich an, doch sie sagte nichts.
Martine wandte sich nachdenklich Arvid zu. Dieser lächelte gerade einen älteren Mann höflich an, der im Begriff war, mit ihm ein Gesetz zu erörtern, und Arvid dabei mit seinem knochigen Finger an die Brust tippte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Kriegsherr wie Thegan sich mit einem Bauern in schmutziger Hose auch nur an einen Tisch gesetzt hätte. Und wer ihn an die Brust gestoßen hätte,
hätte im Gegenzug ein Schwert durch die Brust gestoßen bekommen.
Sie wurden für die Nacht auf die Häuser der Cottagebewohner verteilt, und Martine wurde bei Apple untergebracht. Diese bedankte sich zwar, als Martine ihr anbot, für sie die Steine zu deuten, lehnte jedoch ab.
»Es gibt Fragen, die nicht gestellt werden sollten, und es gibt Fragen, die es nicht wert sind, gestellt zu werden, und das sind die einzigen beiden Sorten Fragen, die ich habe«, sagte sie lächelnd. Unter dem Lächeln spürte Martine jedoch eine Anspannung, die ihr verriet, dass Apple in der Vergangenheit Leid erfahren haben musste.
Apple schickte ihren Sohn Snow für die Nacht in das Haus von Freunden, und Martine schlief in seinem Bett, in sauberen Laken, die nach den Rosmarinbüschen dufteten, auf denen sie getrocknet worden waren. Die Ansiedlung war nicht das Paradies, und zweifellos hatten sie so hoch oben im Norden einen langen, kalten Winter gehabt. Dennoch dachte Martine, während sie allmählich in den Schlaf sank, dass es hier die besten Lebensbedingungen gab, die sie bis jetzt auf dem Gebiet eines Kriegsherrn gesehen hatte.
Sie träumte von Arvid. Sie waren nackt, umhüllt von Flammen, die nicht brannten, sondern unfassbare Hitze durch jede Pore schickten. Ihr Haar schwebte um sie, als befände sie sich im Wasser, und er fuhr mit seinen Händen hinein und zog ihren Kopf zu sich heran, begehrte ihren Mund, als sei er verrückt nach ihr, wie sie es nach ihm war. Unmittelbar bevor ihre Lippen sich berührten, wachte sie auf und lag nun mit wundem Herzen da und
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